„Der Mensch ist das Mass aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“ Protagoras, 490-411 v.Chr. So schnell kann es gehen! Innert nur zweier Wochen stieg die Rendite 10jähriger deutscher Bundesobligationen von 0.05% auf 0.79%. Die Zinsen an allen Anleihemärkte drehten nach oben und bescherten den Anleihehaltern einen Buchverlust von global rund 500 Mrd. USD.
Dabei waren Staatsanleihen, insbesondere aus dem Euro-Raum, der „no-brainer“, also etwas, was man nicht falsch machen konnte, schlechthin, der „most crowded trade“. Wer konnte es sich leisten, die durch Draghi und die EZB garantierten Kursgewinne, die Einladung zum legalen Frontrunning beim monatlichen 50 Mrd. Euro-Bonds-Kaufprogramm abzulehnen?
Marktmanipulation – die Finanzwelt steht Kopf
Der Eingriff, den die QE-Massnahmen darstellen, zerstört die feine Balance von Angebot und Nachfrage im Markt der Staatsanleihen und führt dazu, dass der Marktzins eben nicht mehr von den Marktkräften gebildet wird sondern von den Schuldnern, den Regierungen, und ihren willigen Helfern, den Notenbanken. Und das stellt die Prinzipien des „freien Marktes“ zugunsten eines eher sozialistischen Plan- und Interventionsmodells auf den Kopf. Mitte April „rentierten“ 25% der Staatsanleihen im Euro-Raum im negativen Bereich.
Global weist der Markt für Staatsanleihen ein Volumen von 76 Bio. USD auf. Das sind 76 000 000 000 000 USD, eine Zahl mit 12 Nullen. Eine Erhöhung des Zinses um nur ein Prozent bedeutet rechnerisch eine zusätzliche Zahlungslast von 760 Mrd. USD. Und entsprechende Kursverluste für die Anleiheeigner.
Das Ende der 35-jährigen Bonds-Rallye
Als Paul Volcker 1979 sein Amt als Präsident der amerikanischen Federal Reserve antrat, erhöhte er die Leitzinsen auf 21%, um die hartnäckige Inflation und deren Erwartung niederzuringen. Was folgte, war ein beispielloser Rückgang von Zinsen und Inflation – auf globaler Ebene – bis zur Null-Linie. Während in den USA der Zins immerhin noch knapp im positiven Bereich blieb, schiessen insbesondere die Schweiz, Schweden, Dänemark und Deutschland über das Ziel hinaus.
Der Flirt mit einem permanent negativen Zinsniveau bringt aber Phänomene hervor, die die Natur der Finanzmärkte, wie wir sie seit Jahrhunderten kennen, pervertiert. Das Ergebnis ist, dass eine Absurdität auf die andere folgt.
Skurrilitäten 2015
In Dänemark werden seit einiger Zeit Hypothekenschuldner dafür bezahlt, dass sie sich Geld leihen. Restaurants und Tankstellen sind neuerdings in Dänemark nicht mehr verpflichtet Bargeld anzunehmen. In der Schweiz gehen institutionelle Anleger dazu über, Geld von den Banken abzuziehen und es in hoch gesicherten Lagerhäusern zu verwahren. Die Lager- und Überwachungskosten sind geringer als der Strafzins. Darüber hinaus berichtet die SNB, dass 1 000-Franken-Scheine eine enorme Nachfrage erleben und dementsprechend im Bargeldumlauf signifikant gestiegen sind. In den USA versandte J.P.Morgan vor einigen Wochen eine Mitteilung an Anleger, in der angekündigt wurde, dass fortan eine „balance-sheet utilization fee“ auf Einlagen erhoben wird – eine immerhin elegante Formulierung für Strafzinsen.
Wenn aber Banken ihr Kerngeschäft, das Depositen- und Kreditgeschäft, aufgrund der von Regierungen und Notenbanken verzerrten Marktbedingungen nicht mehr wirtschaftlich betreiben können und Kunden offen abschrecken, dann ist klar, dass die Marktmanipulationen von ganz oben nicht nur die Banken korrumpiert – LIBOR-, Devisenmarktmanipulation und andere kriminelle Aktivitäten –, sondern auch das Finanzsystem als Ganzes ausgehöhlt haben.
Beispiel Deutsche Bank
Kein Verfahren gegen Banken in den USA oder anderswo, bei dem die Deutsche Bank nicht als einer der Hauptakteure betroffen ist. Die Unzahl der schwebenden Verfahren und die teilweise milliardenschweren Strafzahlungen belasten die Bank schon lange und auch auf absehbare Zeit. Die Aktie zählt nicht ohne Grund zu den lahmen Enten und bewegt sich auf dem Kursniveau von 1994, um rund 75% unter ihrem historischen Hoch. Folglich wird wieder restrukturiert. In Deutschland werden Filialen in grosser Zahl geschlossen, die Postbank-Beteiligung wird veräussert. In den USA wurden zwei Drittel des Geschäfts in die Taunus Holding ausgegliedert, die nicht regulierten Geschäftsbereiche.
Die Taunus Holding residiert auch weit ausserhalb von New York in einem unscheinbaren und offensichtlich günstigen Gebäude. Daraus lässt sich leicht ablesen, dass der deutsche Privatkunde und weitgehend auch der Geschäftskunde nicht mehr unter den Prioritäten zu finden sind. Das Interesse gilt vielmehr dem Investment Banking und dem Shadow Banking. Bestimmt ist die Deutsche Bank ein grosser Player im geschätzte 400 Bio. USD umfassenden Markt für zinsbasierte Derivate – das, was Warren Buffett einst als finanzielle Massenvernichtungswaffen bezeichnet hat. Diese entwickeln ihre zerstörerische Wirkung speziell dann, wenn sich die Richtung der Zinsentwicklung ändert.
Euro-Dollar: noch ein crowded trade
Als Draghi endlich die Bazooka in die Hand nahm und das 50 Mrd. EUR pro Monat schwere Kaufprogramm für Staatsanleihen aufsetzte, war das ein weiterer no-brainer für Hedge Fonds und andere professionelle Investoren, die Euro gegen US-Dollar verkauften.
Alle Welt hatte diesen Trade aufgesetzt oder sprang auf den Trend auf. Bei 1,05 USD pro EUR drehte der Markt jedoch kraftvoll und durchstiess eine abwärtsgerichtete gleitende Durchschnittslinie nach der anderen. Eindeckungskäufe der Leerverkäufer oder nachhaltige Trendwende?
Der Ölmarkt gibt die Richtung vor
In der Chronologie der Trendwenden steht dieses Jahr der Ölpreis am Anfang, der Mitte März nach 9-monatiger Talfahrt und einem Tief von rund 46 USD nach oben abdrehte – und dies trotz steigender Lagerbestände und unverminderten Fördermengen. Das Minus vom Hoch bei 98 USD im Juli 2014 betrug knapp über 50%. Anfänglich waren die Marktteilnehmer wenig überrascht, da nach einer Preishalbierung auch Gegenreaktionen nur natürlich sind.
Eindeckungen der Leerverkäufer, auch diese Erklärung ist plausibel und sogar nachprüfbar. Die Trendwenden bei Euro-Dollar und den Bonds erfolgten erst hinterher und diskontieren scheinbar die Konsequenzen des wieder nach oben gerichteten Preistrends beim Öl. Der EUR-USD-Chart zeigt ein Doppeltief Mitte März und Mitte April, bevor es fürs Erste nachhaltig nach oben ging. Die Trendwende am Bondmarkt schliesslich fand erst Ende April statt.
Interpretation – Sinngebung des Sinnlosen
Der unerwartet und nachhaltig schwache Ölpreis seit letztem Sommer hat einen mächtigen disinflationären Impuls in die Weltwirtschaft gebracht. Die Effekte für die Konsumentenländer wurden als gleichbedeutend mit einer Steuersenkung gesehen. Das Geld, das nicht mehr in den Tank floss, sollte für Konsumausgaben und damit Wirtschaftswachstum eingesetzt werden. Sehr bedingt ist das dann auch so eingetroffen, nämlich in Ländern mit nach wie vor positiven Wachstumsraten wie Deutschland und USA, allerdings nur bei den Bevölkerungskreisen, die nicht ständig finanzielle Löcher stopfen müssen.
Die 25% Arbeitslosen in Spanien und Griechenland und die Pensionäre, die mit 200 oder 400 EUR im Monat auskommen müssen oder auch die über 50% der amerikanischen Bevölkerung, die auf die eine oder andere Weise auf Regierungszuwendungen wie Lebensmittelmarken angewiesen sind – sie alle hatten von ein bisschen weniger Benzinkosten gar nichts, da sie überwiegend Kreditkartenschulden zurückzahlen müssen, überfällige Rechnungen und Medikamente bezahlen, oder darum kämpfen, weder Gewicht noch Würde zu verlieren. Zwei Drittel der Amerikaner sind nur einen Monatsscheck von der Strasse entfernt – und das trotz mehrerer Jobs. Universitätsabsolventen des Jahrgangs 2015 nehmen durchschnittlich 35 000 USD Schulden aus der Ausbildung mit, mehr als je zuvor. Studentenkredite machen zwischenzeitlich insgesamt mehr als 1 Bio. USD aus, werden verbrieft und sind eine der Subprime Krise sehr ähnliche Belastung geworden.
Notenbanken lenken das Investment-Universum
Doch die Märkte funktionieren heute nicht mehr als Antizipation der realen wirtschaftlichen Entwicklungen, sondern mehr wie ein kollektives Schwimmen auf den ungebremsten Wellen der Liquidität. Risk-on, Risk-off. Da private Anleger kaum noch ins Gewicht fallen und die Institutionen weitgehend unter sich und für sich bleiben, kommt für die Märkte das heraus, was die Notenbanken mit Hilfe der Institutionen des Investment Universums beabsichtigen. Fällt der Ölpreis, wahrscheinlich auch als Folge von Manipulationen mit geopolitischen Intentionen, so geht die im Sommer letzten Jahres kaum noch wahrnehmbare Mini-Inflation in der Eurozone in Deflation über, da können die Staatsanleihen auch bis in den Bereich der negativen Verzinsung getrieben werden – am Ende kauft die EZB, egal zu welchem Preis.
Da aber in den USA das Ende der Zero Interest Policy (ZIRP) von der Fed angekündigt und erste Zinserhöhungen in Aussicht gestellt wurden, musste als weiterer no-brainer der Euro zum USD fallen. Der schwache Ölpreis hat das zwar zeitlich verschoben, aber an der Divergenz der Zinsentwicklung in den USA und Europa hat dies nichts geändert. Zusammengenommen führten die Wechselwirkungen in den Annahmen bzw. deren Veränderungen über die Zeit dazu, dass ein scheinbar nun weiter steigender Ölpreis auch bedeutet, dass die Zinserhöhungen in den USA nun eben doch früher als erwartet kommen könnten und dass Europa damit einen erhofften reinflationierenden Effekt erfährt. Bye-bye Nullzinsanleihen! Bye-bye garantierte Kursgewinne auf Euro Staatsanleihen!
Aktienbörsen widerstehen bislang der Gravitationskraft
Eine wesentliche Auswirkung eines neuen Zinserhöhungszyklus wird sein, dass der Diskontierungsfaktor an den Aktienmärkten einer kontinuierlichen Anpassung unterworfen sein wird. Gegenwärtig sind die Bewertungsmodelle für Aktien, die auf der Gewinn-, Dividenden- und Cash-Flow-Diskontierung und der Kapitalrendite basieren, sehr gedehnt. Wie auch immer man es betrachtet: Als Vergleich bezüglich Kurs-Gewinn-Verhältnis und ähnlicher Parameter kommen nur die Jahre 2000 und 2008 in Frage. Nach mehr als 6 Jahren Aufschwung und Steigerung der Unternehmensgewinne zeichnet sich an der trendbestimmenden Wall Street nun eine Stagnation, wenn nicht Rezession ab. Zeitgleich sind die Zinsen der 10-jährigen Staatsanleihen vom Tief bei 1.7% auf immerhin 2.2% gestiegen.
Aktienfans, besonders bei Banken und davon lebenden Fachmedien, scheint das nicht zu kümmern. Aus ihrer Sicht gibt es zur Aktie gar keine Anlagealternative. Das ist, wenngleich gut begründet, nach einer langen Hausse eine gefährliche Einstellung. Genährt wird sie durch das gebetsmühlenähnliche Wiederholen von den immer gleichen Argumenten, z.B. der Rekordsumme, die amerikanische börsennotierte Unternehmen in Aktienrückkäufe stecken. 2014 waren es 679.5 Mrd. USD, 2015 sind bereits 398 Mrd. USD angekündigt. Oder dem boomenden M&A Markt, wie dem unerwünschten und abgelehnten Übernahmeangebot von Monsanto für die Schweizer Syngenta, die das Unternehmen mit 41.7 Mrd. USD bewertete, gut einen Drittel über dem letzten Börsenkurs.
Krieg und Chaos – ein Megatrend
Es dürfte allerdings auch den allmächtig erscheinenden Notenbanken kaum gelingen, die uralte Wechselwirkung von Zinsniveau und Aktienbewertungsniveau dauerhaft ausser Kraft zu setzen. Die Annahme, dass Aktien nicht mehr fallen können, hat noch immer zu katastrophalen Verlusten geführt. Möglich, dass Interventionskäufe am EUR-Bondmarkt die Trendwende verzögern können, doch die Märkte funktionieren heute wohl so, dass zwar ein Trend solange ein Trend ist bis er gebrochen wird, doch wenn er vorbei ist, dann zählt einzig und allein nur noch der nächste Trend. Wenn auch bis 2014 nichts auf kommende Inflation hingewiesen hat, so hat sich das Bild zwischenzeitlich stark gewandelt, zumindest für den Antizipationsmechanismus Börse: Ukraine, Libyen, Syrien, Irak, Yemen – immer grössere Flächen auf der Landkarte versinken in Krieg und Chaos.
Infrastruktur wird zerstört, Versorgungsgüter werden knapp, Flüchtlingswellen verlassen die Gebiete. Aufrüstung spielt nach 25 Jahren Abrüstung wieder eine grosse Rolle. Eine globale Verschuldungsorgie ausser Kontrolle wird den Anlegern eher früher als später die Augen für das öffnen, was einen markt- und risikogerechten Zins ausmacht. Griechenland, Kärnten, Venezuela lassen grüssen. Darüber hinaus sind die Lohnforderungen plötzlich nicht mehr im Minimalbereich, sondern liegen bei 5 und 6%. In Deutschland streiken Lokführer, Erzieher und Briefträger. Weitere Risiken tauchen praktisch täglich auf. Vorsicht erscheint angebracht.
Marktmechanismen sind ausser Kraft gesetzt
Klassische Konjunktur-, Zins- und Kreditzyklen wurden und werden durch die massiven Notenbankinterventionen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Orientierungssuchende mögen Protagoras Satz bedenken: „Was die Götter angeht, so ist es mir unmöglich zu wissen, ob sie existieren oder nicht, noch was ihre Gestalt sei. Die Kräfte, die mich hindern, es zu wissen, sind zahlreich und auch die Frage ist verworren und das Leben kurz.“