„Als zum ersten Mal das Wort »Friede« ausgesprochen wurde, entstand auf der Börse eine Panik. Sie schrien auf im Schmerz: Wir haben verdient! Lasst uns den Krieg! Wir haben den Krieg verdient!“ Karl Kraus, 1874-1936, Publizist, Literat, Sprach-, Kultur- und Medienkritiker, erklärter Kriegsgegner.
Drohnen unter dem Weihnachtsbaum, Robo-Advising bei Banken, ein NATO-Mitglied, das den fundamentalistischen Terror finanziert und ein sozialistischer Präsident, der seinen Wählern empfiehlt, den konservativen Kandidaten zu wählen, um Schlimmeres zu vermeiden – nein, das ist kein alptraumhaftes Delirium, sondern unsere Welt Ende 2015.
Öl – der Nexus aller Entwicklungen
Bereits in der ersten Macro Perspective im Dezember 2014 war die ölige Spur des damals schon fünf Monate andauernden Preiszerfalls, ein regelrechtes Abschmieren, aufgezeigt worden. Der Preis befand sich noch in den niedrigen 60ern. Die Prognose war negativ, und der Preiszerfall hat sich weiter fortgesetzt aus den genannten Gründen wie Wachstumsabschwächung in China und anderen Ländern, der fortgesetzten Dollarstärke, des Überangebots durch die OPEC-Länder, vor allem Saudi-Arabien, im Kampf um Marktanteile. Ein Jahr weiter lotet der Preis neue Tiefen aus, mit 35 USD ist der niedrigste Stand seit der Finanzkrise 2008 erreicht, doch die Lagerbestände sind die höchsten seit 80 Jahren. Und die OPEC führt unverdrossen weiter den Kampf um Marktanteile mit dem Ziel, Produzenten mit höheren Kosten aus dem Markt zu drängen. Mit Erfolg. Über das ganze Jahr war in der Macro Perspective der Blick auf
die neuralgischen Punkte gerichtet. High Yield Bonds, in erster Linie solche von Emittenten aus dem Öl- und Gasbereich, würden als erste den Stress spüren. Inzwischen ist sogar der erste spezialisierte High Yield Bond Fund dazu übergegangen, keine Auszahlungen an Investoren mehr zu tätigen, weil die fire sale Verkäufe der illiquiden Junk Bonds die verbleibenden Anleger überproportional schädigen würden. Eine Detailbetrachtung der Segmente, Ausfallquoten und Zinsentwicklung am richtungsweisenden US High Yield Bond Markt zeigt deutliche Krisensymptome wie zuletzt 2008 (siehe auch Abb. 1). Multimilliardär und Wall Street Wolf Carl Icahn äussert sich dazu in einem Video mit den Worten „Danger ahead“.
Die Zentralbanken und der Ölpreis
Selbst wenn es irgendwo in den Gütermärkten Preissteigerungen geben sollte, würde der Preiszerfall des hochgewichteten „Schmierstoffs“ der Wirtschaft den statistischen Effekt mehr als kompensieren. Also haben die Fed und auch die Bank of England zugewartet mit den angekündigten Zinserhöhungen. Die Bank of Japan ist zuversichtlich, mit den asset purchasing Programmen (QE) bald die Deflationshaltung in Japan zu brechen und sieht sich auf gutem Weg, das 2% Inflationsziel zu erreichen, wenn endlich die Löhne erhöht werden, was aber bisher nicht der Fall ist. Die EZB wollte dem folgen, doch Anfang Dezember passierte dann, was Super Mario und der ihm blind folgende Markt nicht erwartet hätten: dass Jens Weidmann und Sabine Lautenschläger, die beiden deutschen voting members im 24 Köpfe umfassenden Gremium, und etliche andere nicht auf der Mario-Linie blieben. Folge war, dass das QE nur verlängert, aber nicht erhöht wurde sowie dass die Negativzinsen auf Bankeinlagen bei der EZB nur von 0.2% auf 0.3% erhöht wurden, statt auf 0.4%, wie erwartet. Der Euro fiel nicht, wie erwartet im „most-crowded trade“, auf die Parität zum Dollar, sondern stieg um 4 Cents auf 1.10 USD (Chart Euro/USD 01.12.-08.12). Und die Aktienbörsen purzelten.
Zwischenzeitlich weisen auch 40% aller europäischen Regierungsanleihen eine negative Verzinsung auf, die Schweiz steht mit einem Anteil von über 70% wenig überraschend vor Deutschland an der Spitze (Abb. 2). Pikanterweise hatte Goldman Sachs noch Stunden vor dem EZB-Entscheid die Trommel gerührt, es sei noch nicht zu spät, den Euro zu shorten, also leer zu verkaufen. Einen Tag später kam ein seltener Rückzieher von Goldman Sachs und eine Relativierung der Europrognose auf 0.90 USD statt, wie zuvor, 0.80 USD. Dass die Schweizer Notenbank überaus erfolgreich in diesem Ozean von sich brechenden divergierenden QE-Wellen und hoher Volatilität bei den wichtigen Währungen navigiert und Schaden von der Schweizer Volkswirtschaft abwendet, zeigt sich u.a. in dem wieder erreichten Wechselkursniveau, das die Frankenstärke nach dem 15.01.2015 zu einem grossen Teil abgefangen hat. Der Effekt wird, wie schon öfter in der Vergangenheit, sein, dass die Schweizer Unternehmen durch die Anpassungsprozesse noch effizienter und wettbewerbsfähiger geworden sein werden. Die Buchverluste aus Devisenpositionen bei der SNB dürften daher zum Jahresende weit weniger ausmachen als über das Jahr befürchtet wurde.
Die Klimakatastrophe und der Ölpreis
Obwohl glaubwürdige Forscher und Institutionen seit langem vor den Gefahren der Klimaerwärmung warnen, fanden sich doch bislang stets genügend Think Tanks und andere Wissenschaftler, die solche Kritik kategorisch zurückwiesen. Im heissesten Jahr, seit es weltweite Temperaturaufzeichnungen gibt, scheint sich jedoch nun das Pendel in die andere Richtung zu verlagern. Spätestens seit Mark Carney, Governor der Bank of England, die „stranded assets“ Hypothese ausformuliert und damit sicher gestellt hat, dass die Botschaft auch bei den Unternehmen, Investoren und Regierungen ankommt, ist das Thema De-Carbonisierung der Wirtschaft auch auf der Agenda der Investoren. In der Macro Perspective im Oktober wurde die Tragweite aus dem Blickwinkel der Investoren eingehend untersucht. Zwischenzeitlich hat sich auch die Allianz Versicherung dem Carbon Divestment Movement angeschlossen und zunächst den Ausstieg aus Kohleinvestments verkündet. Mit dem Thema scheinen sich alle ausserhalb von Kontinentaleuropa ernsthaft zu beschäftigen, z.B. HSBC, Standard Life oder Generation Foundation. In Deutschland sind die Beamtenpensionen jedoch nach wie vor in Carbon Investments angelegt, wie das Mitglied des EU Parlaments Reinhard Bütikofer auf seiner Homepage enthüllt. Vor dem gegebenen Hintergrund wurde daraufhin die Ölpreisprognose auf 10 bis 25 USD bis 2020 angepasst. Inzwischen haben mit Blick auf die wirtschaftliche Abschwächung in China, aber auch in Brasilien, Argentinien, Venezuela, Nahost, Russland und Europa viele Experten ihre Prognosen zurückgenommen. Am fundamentalen Ungleichgewicht von Überproduktion und schwächerer Nachfrage hat sich bislang nichts zum Besseren geändert. Nach der Pariser Klimakonferenz scheint zudem durch die Selbstverpflichtung der wichtigsten Länder ein unmissverständliches Signal gesetzt zu sein, zumal selbst kritische NGOs die Ergebnisse begrüssen und würdigen.
Deflatorische Entwicklungen
Es ist ja nicht nur der schwache Ölpreis, der das allgemeine Preisniveau sinken lässt. Die Baisse bei Rohstoffen wie Eisenerz, Zink, Kupfer usw. hat ja mit 85 000 Entlassungen z.B. bei Anglo American weitreichende Folgen, darunter auch die Aussetzung der Dividendenzahlung. Auch bei Rio Tinto, BHP-Billiton, Glencore sieht es ähnlich aus. Dazu kommt der Deflationsexport durch Währungskriege und interne Abwertungen durch Lohndumping wie in Griechenland und Deutschland. Der angesehene Ökonom Heiner Flassbeck sieht darin sogar die eigentliche Tragödie in Europa begründet. Was 15 Jahre nach der Internet Revolution gerne übersehen wird, ist der grosse deflatorische
Impuls, wie ihn besonders deutlich Amazon (siehe Abb. 3) repräsentiert. Zwar hat das Unternehmen kaum je nennenswerte Gewinne verzeichnet, aber das war ja nie das Geschäftsmodell. Stattdessen wurde und wird in einem brutalen Verdrängungswettbewerb das US-Prinzip des catagory killers hin zum Monopolisten erhöht. Es geht auch schon lange nicht mehr nur um Bücher, sondern um alles, was man liefern kann. Arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen wie in den letzten Jahren wird es auf mittlere Sicht wohl nicht mehr geben, denn Amazon steht an der vordersten Front beim Einsatz von Drohnen und Robotern. Die Börsenbewertung von rund 315 Mrd. USD lässt auch mit einem weiten Horizont kaum einen Wettbewerber erkennen. Ernstzunehmende Prognosen sagen bis 2025-2030, also in nur 10 Jahren, voraus, dass bis zu 80% aller Arbeitsplätze in den USA in Folge der Substitution durch Drohnen und Roboter verschwunden sein werden. Selbst das MIT, das an der Speerspitze der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz und Robotern steht, reflektiert neuerdings diesen sozialen Sachverhalt.
Sharing Economy und Uber-Monster
Was zunächst irgendwie sozial und ressourcenschonend klingt und auch so gedacht ist, mutiert schon kurz nach dem Säuglingszeitalter in den USA zu einer Monsterindustrie. So führte Uber eine weitere private Finanzierungsrunde durch und weist jetzt nach 51 Mrd. USD noch vor einigen Wochen schon eine Bewertung von 62.5 Mrd. USD aus. Und dies, obwohl ein Richter in San Francisco jetzt auch Sammelklagen zugelassen hat. Die Regulierung ist in den meisten Ländern noch ungeklärt. Klar ist jedoch, dass Uber sowie das nächstgrösste Decacorn Airbnb mit 20 Mrd. USD Bewertung es darauf anlegen werden, ihre Geschäftsmodelle in den diversen Jurisdiktionen durchzusetzen. Wie sich zeigt, ist das zeitweilige Teilen der Wohnungen für die meisten Amerikaner eine schiere finanzielle Notwendigkeit. Denn viele Haushalte sind verschuldet und haben wenig Aussicht auf Besserung.
Das Ende der Mittelklasse
Zu diesen Ergebnissen kommt auch Angus Deacon, der diese Tage den Nobelpreis für Ökonomie erhalten hat. Seine Forschungsergebnisse reflektiert sein Vorgänger Joseph Stiglitz hier, darunter die geringere Lebenserwartung der Amerikaner vs. den Franzosen, der Afro-Amerikaner vs. den Weissen und der schwindenden Mittelklasse vs. den Spitzen der Gesellschaft. Was für die USA gilt, trifft auch auf Europa zu. Hier ist eine Art Verteilungskampf im Gange, wobei Entwicklungen auftreten, die noch vor einem Jahr kaum jemand vorhergesagt hätte, insbesondere mit Blick auf die beschleunigte Desintegration der EU, die schon in der Macro Perspective vom Dezember 2014 thematisiert wurde. Nachrichten wie ‚Hollande ruft den Krieg aus‘ – gegen eine Terrororganisation – sind schon recht irrational. Wenn dann noch ein totalitärer Polizeistaat installiert wird, kritisiert dies der Front National zu Recht. Und weil Hollande, der unbeliebteste und unbedeutendste Präsident der französischen Republik, nichts von einem sozialistischen Präsidenten in der Tradition Mitterands hat, wenden sich die verarmenden Franzosen in ihrer Not der Rechten zu, die wie schon immer einfache Parolen und Lösungen bereithält, die jedem historisch halbwegs Gebildeten erschreckend bekannt vorkommen müssen. Den Machtverlust an die Rechte wollte Hollande vermeiden und rief seine Wähler erfolgreich auf, im letzten Wahlgang Sarkozys Republikaner zu wählen. Die Briten fürchten ähnliche Umwälzungen und kehren der EU offen den Rücken zu. Unterdessen wird die deutsche Kanzlerin Merkel vom TIME Magazin wegen ihres „Leaderships“ in der Flüchtlingspolitik zu Recht zur Person des Jahres gekürt, just wenn ihre Umfragewerte in Folge der dümmlichen Medienberichterstattung und dem Gekläffe aus Bayern und Sachsen nach unten gehen. Alle Welt sieht die historische Grösse und zollt Respekt, doch Seehofer führt sie in München wie einen begossenen Pudel vor. Was die wirklichen Gefahren für Europas Wohlstand und Frieden sind, nennt der Ökonom Nouriel Roubini die Barbaren im Inneren. Dieser Nachrichtenbericht aus Sachsen zeigt, was gemeint ist: http://www.mdr.de/mediathek/mdr-videos/a/video315696.html. In Sachsen Alltag.
Europa von aussen betrachtet
NATO und EU sind nicht identisch und haben unterschiedliche Zielsetzungen. Dennoch herrschen bei den unterschiedlichen Mitgliedsländern Konfusion und Missverständnisse vor, die zu zahlreichen Konflikten führen. Hier agiert auch Kanzlerin Merkel äusserst unklug. Offensichtlich sind die osteuropäischen Länder nie an einer demokratischen Wertegemeinschaft mit dem Westen interessiert gewesen, wie sie auch der Präsident des EU Parlaments Martin Schulz zunehmend vehement von ihnen einfordert, sondern lediglich an den ökonomischen Vorteilen der EU-Mitgliedschaft sowie dem Schutzschild der NATO. Die Verbindlichkeit der Genfer Flüchtlingskonvention verdrängen die osteuropäischen Regierungen, und nicht nur die, und weil die gleichgeschalteten Medien nur dem Populismus und den Demagogen folgen, wird auch in der Bevölkerung kein kritischer Diskurs in Gang gesetzt – solange es nicht ins Bewusstsein gerückt wird. Hier sollten eigentlich die fehlenden Meinungsbildner aus dem Vakuum auftreten. Wenn osteuropäische Länder keine oder nur christliche Flüchtlinge aufnehmen wollen und sich hinter NATO-Stacheldraht verschanzen, ist das in Europa keine akzeptable Politik. Wahrhaft abgründig und erschreckend ist jedoch, was zuletzt in Lettland zutage trat. Die Regierung trat zurück, weil sich die Koalition über die Aufnahme von 776 Flüchtlingen laut EU Quote zerstritten hatte. Im Vorfeld hatten 22 000 Lehrer gegen die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen gestreikt und lautstark protestiert. Dies zeigt ohne weitere Erläuterung, wie weit entfernt Osteuropa mit Blick auf die Vermittlung der Respektierung der Menschenrechte wirklich ist. Denn Lehrer sollten ja eigentlich demokratische Werte vermitteln. Während Papst Franziskus die Christenmenschen auffordert, den vor Krieg und Vernichtung fliehenden Flüchtlingen ohne Ansehen der Religion beizustehen, unterstützen der Erzbischof von Budapest und weitere hohe Kleriker in Polen und anderen Visegrad-Staaten die nationalistische Politik von Orban und Co. Die Historikerin Diana Pinto zieht eine klare Trennlinie, die auch dringend erforderlich ist. Bezüglich der wirtschaftlichen Aspekte zeigen eine Umfrage unter Ökonomen durch Bloomberg sowie diverse Studien, dass Flüchtlinge das Wachstum generell beflügeln und auch Investitionen mit sich bringen. Dies gilt für Europa noch stärker als für die USA, weil die demografische Entwicklung in Europa dem gleichen Schrumpfungsprozess unterworfen ist, der Japan schon seit 25 Jahren in seinem deflatorischen Würgegriff hält. Dies ist auch eine Folge der japanischen Xenophobie, kaum 1% der Bevölkerung sind Nicht-Japaner.
Türkei – Erdogan im Cäsarenwahn
Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind in der Türkei bereits aufgehoben. Die Untersuchungen über Verwicklungen der Türkei in den IS Ölhandel waren bereits in der Macro Perspective vom August Gegenstand. Hier wird im Dezember dieselbe Quelle angeführt. Auch die offensichtliche Verwicklung von Saudi-Arabien und Qatar wird international offen diskutiert, allerdings nicht in den deutschsprachigen Medien. Inzwischen hat Russland weitere Beweise über die verwerfliche Rolle der Türkei bei der z.T. unverhohlenen Unterstützung für den Golem IS vorgelegt, die auch in den USA sehr ernst genommen und offen diskutiert werden, Obama fordert von Erdogan Erklärungen. Der hat kürzlich noch seinen Schwiegersohn als Energieminister eingesetzt, um die Posse wirklich bühnenreif aufzuführen. Und um das Mass voll zu machen, paktieren jetzt noch die Empfängerländer von EU Steuermitteln, Türkei und Ukraine, um Russland zu bekämpfen. Zeitgleich befinden sich neben den USA auch Frankreich und UK in einer militärischen Allianz mit Russland. Mittlerweile haben sich unter Führung von Saudi Arabien 34 muslimische Staaten zum Kampf gegen den Terrorismus zusammengeschlossen.
Wäre die Lage nicht wirklich hochexplosiv, könnte man über Karl Kraus auf die meisten Protagonisten höchst zutreffendes Zitat lachen: „Wenn die Sonne der Kultur tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten.“