Der europäische (online-) Apothekenmarkt: Strukturelle Änderungen durch Wettbewerbsdruck und Konsolidierung – Teil I

0
3093
In Deutschland gibt es noch über 20'000 stationäre Apotheken. Quelle/Bild: www.abda.de
In Deutschland gibt es noch über 20’000 stationäre Apotheken. In Europa sind es sogar über 220’000. Quelle/Bild: www.abda.de

Die Gesundheitsindustrie in Europa besticht schon durch ihre schiere Grösse – mehr als 220’000 Apotheken versorgen fast 700 Millionen Menschen. Allein der Einzelhandelsumsatz mit nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten beläuft sich auf 250 Mrd. Euro.

Gesundheitsreformen mit dem Ziel, die volkswirtschaftlichen Kosten zu senken, sind seit Jahrzehnten ein Dauerthema. Allerdings zeigen sich die verschiedenen involvierten Parteien wie Pharmaindustrie, Ärzte und Apotheker, die zu den bestverdienenden Branchen bzw. Berufsgruppen zählen, mitunter als besonders reformresistent. Immerhin geht es um die Sicherung des Einkommens mit der durchaus stichhaltigen Begründung, dass zur Sicherung hoher Qualitätsstandards bei Ausbildung, Forschung, Produktion und Therapie auch ein entsprechender gesellschaftlicher Interessensausgleich für die Akteure gewährleistet sein muss.

Strukturwandel und Interessensausgleich

Es ist Sache der Politik, der „res publica“, den gesetzlichen Rahmen zu schaffen und auch zu verändern, so dass die berechtigten Bedürfnisse, die u.a. aus der langen Ausbildung sowie der Verantwortung und Haftung resultieren, voll berücksichtigt sind, und doch, gleichwohl, der Gesellschaft als Ganzes kein Schaden durch fossilierte Strukturen und Machtmissbrauch bei der Preisfestsetzung, Korruption oder Kartelle und Oligopole entsteht. Die Lösung in der freien Marktwirtschaft ist mehr Wettbewerb. Doch genau diesen suchen diejenigen zu verhindern, die vom Fortbestand der alten Strukturen zu profitieren vermögen.

Online Apotheken – ein neuer Markt entsteht

Ein Beispiel ist der Markt für Internet oder online Apotheken. Nach der rechtlichen Klärung der mit den digitalen Möglichkeiten aufkommenden neuen Geschäftsmodelle und der Schaffung von adäquaten Voraussetzungen startete der Schweizer Apothekenmarkt 2001 durch die 1993 gegründete Zur Rose AG ins digitale Zeitalter, nach Überwindung der Hürden und Klagen, die von den stationären Apotheken aufgeworfen worden waren. Zum Vergleich: In Deutschland startete der Medikamentenversand erst 2004.

Ein Champion aus der Schweiz

Dass die Schweiz früh begonnen hat, den Markt für online Apotheken zu liberalisieren, hat sich positiv auf die Evolution des paneuropäischen Marktes ausgewirkt. Heute nimmt die Zur Rose-Gruppe mit DocMorris eine dominante Stellung bei den online Apotheken in Europa ein. Doch das schlägt sich aktuell weder in hohen Wachstumsraten noch einer angemessenen Bewertung der Zur-Rose-Aktie nieder. Im Folgenden sollen 1. die Entwicklung der Marktführerschaft und der wesentlichen Stärken analysiert, 2. die Dynamik des strukturellen Wandels im Medikamenten- und Apothekenmarkt evaluiert und 3. die strategischen Optionen zur Steigerung des Unternehmenswertes exploriert werden.

Von Bill Clinton zu Obamacare

Die ersten Internet Apotheken gab es in den USA, wo ja auch die Internet-Revolution ihren Ausgangspunkt hatte. Doch der US-Gesundheitsmarkt funktioniert nach anderen Prinzipien als derjenige in Europa. Schon Bill Clinton hat seinen Wahlkampf 1993 u.a. mit dem Versprechen gewonnen, die ausufernden Kosten (inzwischen über 17% des BSP in 2013) für das Gesundheitssystem zu bekämpfen und vor allem die vielen Millionen Amerikaner ohne Krankenversicherung in das nationale System zu integrieren. Mehr als 20 Jahre später hat sich die Pharmaindustrie zwar angepasst und widerwillig auch Preiszugeständnisse gemacht, doch ihr Einfluss und ihre Interessen werden durch die Lobbyarbeit an allen Fronten stärker denn je forciert. Bei kaum einem Thema gab es einen so dauerhaften „gridlock“ zwischen Kongress und Senat wie bei „medicare“ und „medicaid“, den Programmen für die Nicht-Krankenversicherten. Immerhin ist es mit den letztlich doch verabschiedeten Gesetzen PPACA, kurz „Obamacare“, gelungen, ab 2012 die Rate der unversicherten US-Bevölkerung nochmals von 18% auf unter 14% zu senken, von in der Spitze weit über 20%.

US-Markt nur bedingt vergleichbar

Das Heer der Unversicherten – das sind die Teilzeitbeschäftigten, Langzeitarbeitslosen (die auch in keiner Statistik auftauchen), Kriegsinvaliden, illegalen Einwanderer und chronisch Kranken wie Fettleibige (35% der Bevölkerung) – kann sich Ärzte und Verordnungen kaum leisten, und wenn, dann so kostengünstig wie möglich. Das gilt auch für die mehr als 50% der US-Bevölkerung, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen und meist hoch verschuldet sind. Online Apotheken, die im US-Markt eine Kostenersparnis von 50-60% bringen, sind daher ein willkommenes Instrument gewesen, um mehr Amerikaner mit erschwinglichen Medikamenten zu versorgen. Der Effekt war, dass online Apotheken wie Pilze aus dem Boden schossen. Zahlreiche Skandale entwickelten sich. Markenmedikamente wurden kopiert, in China meistens, es kam zu Todesfällen. Durch Produktpiraterie entgingen der Pharma-Industrie, aber auch Medizingeräteherstellern, und sogar bei Herzschrittmachern, Milliarden US-Dollar Umsatz. Hinzu kam die Vertrauenskrise. Und weiterhin Geldwäsche, Betrug etc. Nach Aussagen von FBI und FDA waren 97% der in den USA operierenden online Apotheken illegal.

Niederlande als europäischer Pionier

Diese Fehlentwicklungen wurden von den Gegnern der Liberalisierung in den europäischen Ländern unter dem Hauptargument Sicherheit immer wieder als abschreckende Beispiele angeführt. In den USA wurde das Problem mit der Aufklärung der Verbraucher, Strafverfolgung und einem System akkreditierter online Apotheken, nur 44 an der Zahl, angegangen. In Europa waren die Reglementierungen von Anfang an dagegen eher restriktiv. Online Apotheken hatten höhere Hürden zu nehmen. Dabei gab und gibt es grosse Unterschiede zwischen den zahlreichen Ländern. Die Niederlande waren wie so oft besonders schnell bei der kommerziellen Anpassung an die digitalen Möglichkeiten. Die ersten grossen online Apotheken sind dort entstanden, u.a. auch DocMorris.

Effekte der Liberalisierung

Das hatte zweierlei Effekte: Erstens zeigt das veränderte Kaufverhalten der Niederländer, wie weit das Potenzial zu Verschiebungen gehen kann. Während in den Niederlanden bereits 85% der nicht verschreibungspflichtigen Medikamente nicht mehr über stationäre Apotheken verkauft werden, liegt diese Quote in Deutschland, dem grössten europäischen Markt, bei lediglich 5%. In der Schweiz sind es 11%. Der zweite Effekt der frühen Liberalisierung in den Niederlanden war, dass von dort aus auch die meisten anderen europäischen Länder bedient wurden. Die Europa-Apotheke mit Sitz in den Niederlanden ist bis heute mit einem signifikanten Marktanteil ein grosser Player geblieben. Das Kronjuwel war jedoch DocMorris, die bereits 2007 vom deutschen Pharma-Grosshändler Celesio für mehr als 200 Mio. Euro übernommen worden war.

Unterdessen hatte die 1993 als Einkaufsgemeinschaft praktizierender Ärzte in der Schweiz gegründete Zur Rose AG ebenfalls früh die Chancen des digitalen Zeitalters erkannt und stieg mit Beginn des Jahres 2001 in den online Apothekenmarkt ein, zunächst in der Schweiz, dann aber auch in Deutschland, Tschechien und Österreich, wo das Versandhandelsverbot (für österreichische Anbieter) für Medikamente erst 2015 fiel.

Gute Ausgangslage für Zur Rose

Die Schweiz verfügt indes über eine Besonderheit, die sich für die frühzeitige Positionierung von Zur Rose als äusserst hilfreich erwies, das Privileg der Selbstdispensation, die in vielen Kantonen Standard ist und in weiteren erst jüngst erlaubt wurde. Die Selbstdispensation ist sonst nur in Teilen Österreichs erlaubt, aber sonst nirgends in Europa. Die Ärzte, die ihre Einkaufsmacht 1993 bündelten, konnten die Zur Rose AG daher auf einer soliden Cashflow-Basis ab 2001 operativ in den Versandhandel an Patienten einsteigen lassen. Dazu kam der Vorteil, dass Zur Rose von Anfang an auf einer ebenso soliden Informationsbasis stand. Es war letztlich das Zusammenwirken von Informations-, Wettbewerbs- und Zeitvorteil, der die strategische Positionierung möglich gemacht hatte.

Der Weg zur Marktführerschaft

Die grösste Opportunität für Zur Rose tat sich dann 2012 auf, als Celesio seine Strategie änderte und sich von DocMorris trennen wollte. Für nur 25 Mio. Euro erwarb Zur Rose die DocMorris online Aktivitäten und verdoppelte damit den Gruppenumsatz auf rund 900 Mio. CHF. Der Marktanteil in wichtigsten Markt Deutschland kletterte damit auf 34%, weit vor Europa-Apotheke sowie Sanicare und Mycare, die im einstelligen Prozentbereich rangieren. Heute gibt es in Europa rund 7’000 autorisierte online Apotheken, doch rund zwei Drittel des Umsatzes entfallen auf dem deutschen Markt auf die vier Marktführer. Die European Medicines Agency (EMA) hat zwischenzeitlich ein Verifikationssystem mit einem interaktiven Logo geschaffen, so dass mögliche Fehlentwicklungen wie in den USA weiter minimiert sind. Tatsächlich ist seit Einführung der online Apotheken in Europa noch kein einziger gravierender Fall, der die Sicherheit der Verbraucher ernsthaft gefährdet hätte, aufgetreten.

Zwischenbilanz

Zusammenfassend betrachtet liegt die Stärke von Zur Rose-DocMorris in der mit besseren Margen versehenen Versorgung der selbsdispensierenden Ärzte in der Schweiz, die zugleich auch die Aktionäre sind, nach der letzten veröffentlichten Zahl 2’168. Das bringt nicht nur Cashflow und eine professionelle Markteinschätzung mit sich, sondern auch ein starkes gemeinsames Interesse, den Markt aktiv mitzugestalten, sowie den Willen zur Verfolgung der langfristigen Ziele. Die unangefochtene Stellung des Marktführers in Europa bei den reinen online Apotheken stellt eine strategische Position dar, deren Wert an der Börse nicht reflektiert ist.

In Teil II werden die starken Veränderungen unterworfenen Marktstrukturen, neue Player und Distributionskanäle untersucht.

Kommentar verfassen