Kommentar Zur Rose: RX-Versandverbot im deutschen Koalitionsvertrag sorgt für Unsicherheit und Kurssturz – Der Versuch einer Spurensuche im Berliner Politikbetrieb…

Genaue Auswirkungen sind allerdings bisher unklar.

1
4093
Medikamentenkommissionierung am Hauptsitz in Frauenfeld. Bild: Zur Rose Group AG, www.zurrosegroup.ch

Närrische Tage nicht nur an der Fasnacht. Seit dem Nachmittag des 7. Februar 2018 verlieren die Aktien des Gesundheitsdienstleisters Zur Rose AG und ihres deutschen Wettbewerbers Shop Apotheke Europe N.V. deutlich an Boden. Für die reine Versandapotheke Shop Apotheke Europe ging es zeitweise um mehr als 25% in den Keller, und auch Zur Rose verloren deutlich zweistellig, aktuell etwa 30% seit den Kursen vom 7. Februar 2018 zur Mittagszeit.

Was ist geschehen? Im 179 Seiten starken Koalitionsvertrag vom 7. Februar 2018, der das politische Kunststück schafft, unglaublich detailreich und vage zugleich zu sein, heisst es an einer Stelle (Seite 15) wörtlich: „Wir stärken die Apotheken vor Ort: Einsatz für Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln.“ Und auf Seite 98: „Zu einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung gehören für uns neben einer gut erreichbaren ärztlichen Versorgung auch eine wohnortnahe Geburtshilfe, Hebammen und Apotheken vor Ort. Um die Apotheken vor Ort zu stärken, setzen wir uns für ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ein.“

Diese Sätze, die viele Marktakteure mit einem raschen Ende des seit 2004 in Deutschland erlaubten Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Medikamenten gleichsetzen, reichten aus, um die Kurse der Versandapotheken stark unter Beschuss zu nehmen. Auffällig bei Zur Rose: Der grosse Kurssturz kam erst zeitverzögert am Nachmittag des 7. Februar 2018 zustande, als die Nachricht vom „RX-Versandverbot“ schon ein paar Stunden im Raum stand, aber zunehmend über News-Kanäle auch in englischer Sprache verbreitet wurde, teilweise in einer Wortwahl, als stünde dieses Verbot unmittelbar bevor. Aus der Aussenperspektive betrachtet könnte dies ein Signal sein, dass vor allem US-amerikanische Investoren aus Furcht vor einem schnellen RX-Versandverbot sich undifferenziert und schnell von den Versandapotheke-Aktien Zur Rose und Shop Apotheke getrennt haben. Es sah dabei auch so aus, als seien viele Verkaufsaufträge unlimitiert eingestellt worden – was den Abwärtsdruck verstärkte.

Die Bekanntgabe des Koaltionsvertrages hatte massive Kursverluste in den Aktien von Zur Rose und Shop Apotheke zur Folge. Chart: moneynet.ch

Angesichts der auch politisch auf allen Ebenen komplexen Ausgangslage wagen wir – ausgehend von aktuellen Entwicklungen in Deutschland – heute den alles andere als einfachen Versuch einer Spurensuche und Standortbestimmung im politischen Berlin, die auch für uns zum jetzigen Zeitpunkt viele Fragen offen lässt und wenig klare Antworten liefern kann. Auf analytische Musterrechnungen über den Wert einer Zur-Rose-Gruppe mit und ohne deutsches RX-Geschäft sowie verschiedene Szenarien möchten wir aufgrund der hohen Unsicherheit vorläufig verzichten.

Ein Blick zurück auf die Bundestagswahl

Die Geschichte dieses aktuellen Kurssturzes fängt im Kern damit an, dass Deutschland sich seit der Bundestagswahl vom 24. September 2017 – wohlwollend formuliert – in einem politischen Schwebezustand ohne eine stabile Regierung und mit lange Zeit völlig offenen politischen Mehrheitsverhältnissen befindet. Quasi „italienische Verhältnisse“ mitten in Deutschland, doch während Italien Erfahrung mit wechselnden politischen Mehrheiten hat, sind die stabilitätsverliebten Deutschen in einer für sie völlig neuen Situation – die nicht nur die Menschen im Land, sondern auch die Politik fordert, vielleicht sogar auch überfordert. Auch das aktuelle politische Führungspersonal – insbesondere von CDU/CSU und SPD – gilt manchem Beobachter als „angezählt„.

Links die SPD, links davon die Linken als letzter „Newcomer“, rechts die CDU/CSU und irgendwo zwischen „rot“ und „schwarz“ die gelben Liberalen und – als Farbtupfer – die längst im politischen Establishment angekommene Partei der Grünen. Das war die übersichtliche bunte Farbenlehre der Bundesrepublik und damit ist Deutschland über viele Jahrzehnte auch gut gefahren. Aber die Welt verändert sich, ob Deutschland will oder nicht.

Durch das Erstarken neuer politischer Kräfte „rechts“ der CDU/CSU mit ihrem zunehmend unklaren politischen Werte- und Koordinatensystem gilt diese „alte“ politische Weltordnung in Deutschland nicht mehr. Die in ihren Strukturen und auch inhaltlich undurchsichtige, aber erfolgreiche AfD Alternative für Deutschland – als Emporkömmling auf der politischen Bühne wenig geliebt und lange Zeit nach Kräften ignoriert von den etablierten „Altparteien“ – ist bei der Bundestagswahl mit 12.6% der Stimmen zur drittstärksten politischen Kraft in Deutschland hinter den vom Wähler abgestraften klassischen Volksparteien CDU/CSU (32.9%, -8.6%) und SPD (20.5%, -5.2%) aufgestiegen, noch vor FDP, Grünen und Linken. Ein „Schock“ für den sonst so gemütlichen Berliner Politikbetrieb! Den „Volksparteien“ ist das Volk weggelaufen – und das nicht über Nacht, sondern am Ende einer schleichenden Entwicklung. Der Aufstieg der AfD wäre bei Licht betrachtet jedoch kaum möglich gewesen ohne die Schwäche der anderen. Mit Blick auf die Wählerwanderungen fällt dem interessierten Beobachter auf, dass sich die Wähler der AfD längst nicht nur aus unzufriedenen Nichtwählern, Antidemokraten und „Nationalisten“ rekrutierten, sondern auch CDU/CSU und die SPD (!) in erheblichem Umfang Stimmen an die AfD verloren haben. Das alleine sollte nachdenklich stimmen, erwies sich aber auch als Hypothek für anstehende Regierungsgespräche. Allen Beteiligten wurde schnell klar, dass Neuwahlen – die angesichts der komplexen Stimmenverhältnisse nach der Wahl eine weitere Variante gewesen wären – nicht unbedingt zu „besseren“ Ergebnissen für die etablierten Parteien führen würden und die reale Gefahr bestanden hätte, weitere Stimmen an die AfD zu verlieren. Insofern steckten die Parteien hier in einem Dilemma.

Damit wurde spätestens im September 2017 auch die bestehende bundesrepublikanische Grundordnung einer Fünf-Parteien-Landschaft in ihren Grundfesten erschüttert und es stand mit der AfD plötzlich eine weitere politische Kraft im Bundestag, die sich fortan nicht länger ignorieren liess – und die Bildung von Koalitionen verkomplizierte, da keine der anderen Parteien mit der AfD koalieren will.

Unglückliche Rolle von Martin Schulz

Dies umso mehr, da die SPD unter ihrem „unglücklich“ agierenden Kanzlerkandidaten und Vorsitzenden Martin Schulz – flankiert von weiteren Spitzengenossen – als grosser Wahlverlierer noch am Abend der Wahl – letztlich ohne Not – vor jeder aufgebauten Fernsehkamera fast schon gebetsmühlenartig erklärte, für eine Neuauflage der Grossen Koalition (GroKo) nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Bilder, die sich tief ins deutsche Gedächtnis eingegraben haben. Ein strategischer und taktischer Fehler, wie sich Monate später zeigen sollte.

Da also die SPD für eine Neuauflage der „GroKo“ unmittelbar nach der Wahl zunächst nicht zur Verfügung stand, sollte es eine bis dahin auf Bundesebene nie dagewesene „Jamaika-Koalition“ aus CDU/CSU, FDP (Liberale) und Grünen richten und Deutschland in eine neue politische Zeitrechnung führen. „Jamaika“ stand für Aufbruch und Dynamik. So schön die Theorie, so grau der Alltag des Politikbetriebs. Nach tage- und nächtelangen Sondierungsverhandlungen, von allen Beteiligten auch mit jeder Menge Theatralik, gezielten Indiskretionen und kleinen und grossen Dramen inszeniert, scheiterte „Jamaika“ jedoch im November 2017 zur Überraschung der meisten Beobachter durch den Ausstieg der Liberalen mit einem grossen Knall – und Deutschland stand 2 Monate nach der Wahl noch immer ohne Regierung da. Das Wahlvolk reagierte mit Unverständnis und auch wachsender Ungeduld.

Die Not im politischen Berlin war mit dem Ende von „Jamaika“ gross, denn damit war auch diese mögliche Regierungskonstellation verbaut. Was tun? Also doch nochmal die GroKo, aber da war die Braut SPD, die sich noch zierte…!? Unmittelbar nach den geplatzten „Jamaika“-Verhandlungen erklärte Martin Schulz am 20. November 2017 der Öffentlichkeit nochmals vollmundig, dass die SPD aufgrund des Wählerauftrags vom 24. September 2017 für den Eintritt in eine Grosse Koalition mit der CDU/CSU „nicht zur Verfügung steht„. Doch diese Aussage sollte eine nur sehr kurze Halbwertszeit von wenigen Tagen oder Wochen haben.

In einer mit Blick auf die Glaubwürdigkeit nicht nur des Vorsitzenden schwierigen 180-Grad-Kehrtwende kehrte die SPD, die die „GroKo“ unter ihrem Vorsitzenden Martin Schulz lange Zeit genauso so vehement wie ein Ministeramt von Schulz in einem Kabinett Merkel ausgeschlossen hatte, unter dem Druck der Öffentlichkeit – aber auch von Teilen der eigenen Partei – tatsächlich doch noch einmal zurück an den Verhandlungstisch, nachdem ein Parteitag der SPD-Parteiführung am 21. Januar 2018 dafür mit knapper Mehrheit und vielen Diskussionen das Mandat erteilt hatte.

Und wieder gab es – diesmal zwischen CDU/CSU und SPD – tage- und nächtelange Sondierungsgespräche, die sich wie schon in „Jamaika“ über eine gefühlte Ewigkeit hinzogen. War eine Einigung nach vielen Verhandlungsmarathons erst für Ende Januar, dann für das Wochenende 3./4. Februar 2018 vorgesehen, so verzögerten sich die Gespräche immer weiter. Immer wieder wurden seitens der beteiligten Sondierer via Twitter oder anderer Medienkanäle Signale ausgesendet, dass man sich „in Kürze“ einig werde. Die beteiligten Parteien setzten sich mit regelmässigen Medienstatements und neuen Deadlines, dass man „bald“ fertig sei mit dem Verhandeln, selbst gehörig unter Druck. Die Öffentlichkeit reagierte mit wachsendem Unverständnis auf die nicht enden wollenden Verhandlungen der Sondierer und immer neue Ankündigungen zum bevorstehenden Ende der Verhandlungen.

Streitapfel RX-Versandhandelsverbot

Es hakte aber noch auf verschiedenen Ebenen zwischen SPD und CDU/CSU, u.a. auf dem Feld der Gesundheitspolitik, und auch das RX-Versandverbot war lange strittig. In einer im Netz kursierenden Entwurfsfassung des Koalitionsvertrags vom 5. Februar 2018, 11:30 Uhr, ist der Dissens zwischen CDU/CSU und SPD in dieser Position dokumentiert.

Die SPD wollte den seit 2004 – also seit 14 Jahren – in Deutschland erlaubten Versandhandel (OTC und RX) gestützt auch auf frühere Parteibeschlüsse – und wie von früheren Bundesregierungen unter SPD-Beteiligung verfolgt – weiter erlauben, um die Arzneimittelmittelversorgung insbesondere in ländlichen Regionen sicherzustellen. Die CDU/CSU will sich zur „Stärkung der Apotheken vor Ort“ für ein Verbot des Versandhandels einsetzen. Es steht dort aber nicht, dass man diesen verbietet – aber „einsetzen“ will sich die CDU/CSU eben für dieses Verbot. Obwohl das RX-Versandverbot bei der CDU/CSU – notabene als einziger Partei neben den noch „links“ von der SPD stehenden Linken – auch Teil des Wahlprogramms war, ist diese Position auch innerparteilich alles andere als unumstritten. Es gibt auch innerhalb der CDU/CSU Befürworter des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln als Ergänzung – und nicht als Ersatz – für die Vor-Ort-Apotheken im Sinne einer Wahlfreiheit für mündige Patienten. Aber „Wahlfreiheit“ ist scheinbar etwas, das manch einem Parlamentarier heute Kopfschmerzen bereitet, die nur mit Aspirin aus der Vor-Ort-Apotheke zu therapieren sind.

Nach Vorlage des „Entwurfs“ vom 5. Februar 2018 gab es nochmals weitere Verhandlungsrunden und eine weitere lange Verhandlungsnacht, vom 6. auf den 7. Februar 2018. Diese sollte dann wirklich die letzte Verhandlungsrunde werden. Medien berichteten über einen „24-Stunden-Verhandlungsmarathon“ zwischen CDU/CSU und SPD, um die letzten offenen Punkte vor der für Mittwoch, 7. Februar 2018, zur Mittagszeit durch die Spitzen der Parteien – Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Martin Schulz (SPD) – angekündigten Präsentation des neuen Koalitionsvertrags zu klären.

Letzte Entscheidungen in den frühen Morgenstunden

Und irgendwann – möglicherweise erst in den frühen Morgenstunden des 7. Februar 2018 und vielleicht auch im Halbschlaf der angebrochenen Nacht – ist es dann passiert. Das vergleichsweise „kleine“ RX-Versandverbot fand, wie bereits eingangs erwähnt, den Weg in den Koalitionsvertrag und die inhaltlichen Bedenken der SPD schienen auf der Zielgeraden „wegkoaliert“ worden bzw. gegen – aus einer Makro-Perspektive – sehr viel bedeutungsvollere Inhalte und Ressorts eingetauscht worden zu sein. Dabei wirkt ein allgemeines Verbot des etablierten RX-Versandhandels über sichere Kanäle nicht nur mit Blick auf die von der Regierung angestrengte Digitalisierungsoffensive eigentlich paradox und widersprüchlich. Schliesslich hatte sich auch die „alte“ GroKo, bis September 2017 im Amt, unter Federführung der SPD deutlich im Patienteninteresse gegen ein Versandverbot positioniert.

Die unter Druck stehende CDU-Führung um Angela Merkel hat der vor einem wichtigen (und vom Ausgang ungewissen) Mitgliederentscheid stehenden SPD – wohl auch aus Furcht vor der SPD-Basis und unter dem Eindruck einer gut organisierten Juso-Kampagne gegen die GroKo – in der Endphase der GroKo-Verhandlungen sehr weitreichende Zugeständnisse bei der Ressort-Verteilung gemacht, wie auch der Schwesterpartei CSU. Die deutlich kleinere SPD erhält wichtige Schlüsselressorts wie das Finanz-, das Arbeits- und das Aussenministerium zugewiesen und ist damit der eigentliche Gewinner der Verhandlungen. Das Gesundheitsministerium, in dessen Zuständigkeit auch die Apotheken fallen, bleibt dagegen bei der CDU. Der CDU fällt das im Vergleich wenig bedeutende Landwirtschaftsministerium zu. Einen eindrücklichen Hintergrundbericht über die Ereignisse dieser letzten Verhandlungsnacht, die von wechselseitigen Drohungen und Blockaden geprägt war, liefert diese Recherche der in München im Heimatland der CSU ansässigen Süddeutsche Zeitung. Dabei soll es am Ende vor allem um Positionen und Ämter gegangen sein, weniger um Inhalte.

Die SPD hat sich teuer verkauft und mit Blick auf die wichtigsten Ministerien sehr gut verhandelt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Randnotiz, dass die SPD von der CDU/CSU nach Aussagen von CSU-Chef Horst Seehofer als Voraussetzung für die Zustimmung zu einer Koalition die Schlüsselministerien Aussen, Finanzen sowie Arbeit/Soziales gefordert und dann von der CDU und der Kanzlerin auch bekommen hat.

Vom gescheiterten Kanzlerkandidat zum Aussenminister

Und dann ist da auch noch der bisherige SPD-Vorsitzende Martin Schulz, gescheiterter Kanzlerkandidat der SPD, der zunächst die GroKo kategorisch ausschloss und zusätzlich auch noch ausschloss, in ein Kabinett Merkel als Minister einzutreten. Der „grosse Europäer“ Martin Schulz, vor seiner Kanzlerkandidatur von 2012 bis 2017 Präsident des EU-Parlaments in Brüssel, hat für sich – wie es aussieht – das Aussenministeramt erkämpft. Damit hat er seinen zuletzt auf diesem Posten beliebten und auch erfolgreichen Amtsvorgänger Sigmar Gabriel (SPD) – ein grosser Verlierer des GroKo-Pokers aufseiten der SPD – am Ende eines Pokers um die Macht quasi überflüssig gemacht. Ob dieses interne Machtspiel für Schulz folgenlos bleibt, wird die Zeit zeigen. Sigmar Gabriel, zugleich ehemaliger SPD-Parteivorsitzender und Vorgänger von Martin Schulz auf diesem Posten, wirft der SPD-Führung in einem aktuellen Gespräch mit der WAZ (Westfälische Allgemeine) aus der Funke-Mediengruppe Wortbruch und Respektlosigkeit vor. Das sind harte und auch ungewöhnliche Worte für zwei führende Köpfe der deutschen Sozialdemokratie, die sich einst auch schon einmal als „Freunde“ bezeichneten. Wie die WAZ weiter berichtet, soll es in der SPD-Bundestagsfraktion am Abend des 7. Februar 2018 nach Teilnehmerangaben viele kritische Wortmeldungen zum geplanten Kabinetts-Eintritt von Martin Schulz gegeben haben. Es ist deshalb nicht auszuschliessen, dass die Personalie Schulz noch ein Nachspiel haben wird.

Wo es Sieger gibt, gibt es auch Besiegte – auch wenn diese nach aussen ebenfalls als Sieger auftreten. Aber auch das gehört zum politischen Geschäft. Nicht wenige Beobachter – interessanterweise sogar innerhalb der CDU – sehen die CDU als den Verlierer des nächtlichen Machtpokers vom Wochenanfang. Kanzleramt gerettet, aber viel verloren. Oder etwas überspitzt: Finanzministerium verloren, RX-Versandverbot gewonnen. Die SPD hatte mit den drei Schlüsselministerien erreicht, was sie haben wollte – alles andere wurde dann zur Manövriermasse.

Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung, die BILD-Zeitung, titelte gestern, die Merkel-CDU hätte der SPD „die Regierung geschenkt“ und zitiert dabei diverse Kritiker auch aus den eigenen Reihen. Selbst amtierende Ministerpräsidenten wundern sich offen über den Verhandlungskurs der Bundeskanzlerin und die Grosszügigkeit der eigenen Führung gegenüber der SPD und ihrem Vorsitzenden bei der Ressortvergabe.

Insbesondere die Aufgabe des „systemrelevanten“ Finanzministeriums – ohne Not – an den „Juniorpartner“ SPD stösst auch in der eigenen Partei auf wenig Gegenliebe und wachsenden Unmut, da die für das „bundesrepublikanische System“ traditionell bedeutsame Achse Kanzleramt-Finanzministerium nicht mehr in einer Hand ist. Das Wirtschaftsministerium, das der Merkel-treue Peter Altmaier besetzen soll, gilt als vergleichsweise unbedeutend.

Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) erklärte gegenüber der WELT, dass die Aufgabe des Finanzministeriums „eine Einbusse (sei), die vom Wahlergebnis nicht gedeckt ist„. Der dem CDU-Wirtschaftsflügel zuzurechnende CDU-Bundestagsabgeordnete Christian von Stetten erklärte im Morgenmagazin der ARD, dass einige Parteikollegen geradezu „erschrocken“ seien darüber, welche Ministerien die SPD bekommen habe und bezeichnet den Kabinettszuschnitt als „politischen Fehler„. Und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) – ironischerweise selbst im Sondierungsteam, aber offenbar ohne Verhinderungskraft – lässt sich gegenüber Medien zitieren, dass es der CDU/CSU „schon weh“ tue, „das Finanzministerium an die SPD abgeben zu müssen„.

Zu vorläufigen Gewinnern des GroKo-Pokers wurden neben der SPD und Teilen ihres Spitzenpersonals – wohl zu ihrer eigenen Überraschung – ganz am Ende also auch die stationären Apotheker in Deutschland, auch wenn es sich bei der Formulierung im Koalitionsvertrag – wie bei so vielen anderen Formulierungen auf den 179 Seiten des Koalitionsvertrags – vorerst nur um eine Absichtserklärung handelt. Wer wie die SPD von der CDU so reich mit Ämtern und ganz im Sinne von Martin Schulz „neuen Perspektiven für die Europa-Politik“ beschenkt wird, darf dann auch mal grosszügig sein, wenn es auf den hinteren Seiten des Vertrags um das „Klein-Klein“ der Apotheken geht.

Am Ende einer sehr langen und stark verästelten Kausalkette und vielen Sitzungen führte die inhaltliche wie personelle Komplexität schliesslich – über das Instrument des Koalitionsvertrags – zu „Kompromissen“ und politischen Tauschgeschäften. In diese Kategorie dürfte schliesslich auch der Satz fallen vom „RX-Versandverbot“ im Koalitionsvertrag in seiner letzten Fassung.

Das Fazit kann heute nur lauten: Nichts Genaues weiss man nicht. Und heute schon gar nicht. Dazu ist alles noch zu vage und zu frisch, auch wenn die Märkte bereits heftig reagiert haben und ein mehr oder weniger zeitnahes Versandverbot – zumindest teilweise – in den Kursen antizipieren. Ob es dazu überhaupt kommen wird, erscheint – Stand heute – völlig offen, weil die politischen Prozesse in Deutschland und auch die personellen Entwicklungen der kommenden Monate in den Parteien zunehmend unkalkulierbar geworden sind und von Volatilität geprägt sein dürften.

Es gibt in diesem frühen Stadium der anstehenden Regierungsbildung noch nicht einmal eine Regierung, geschweige denn ein Gesetz. Und selbst wenn es schon eine Regierung gäbe, ist der Weg hin zu einem Gesetz noch lang. Auf dem Weg dahin kann – und wird – noch viel passieren, ein vorliegender 179 Seiten starker Koalitionsvertrag noch vor der Stunde Null hin oder her. Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, wie es überhaupt möglich sein kann, die nächsten normalerweise 4 Jahre einer Regierung Jahre im Voraus in allen Details auf 179 Seiten angesichts einer sich dynamisch verändernden Welt über einen Koalitionsvertrag zu definieren, anstatt die wirklich wichtigen Leitlinien und gesellschaftlichen Themen in kürzerer Form zu gestalten und anschliessend im politischen Tagesgeschäft mit Blick auf das Markt- und Wettbewerbsumfeld Schritt für Schritt, aber zielgerichtet und effizient, mit Leben zu füllen.

Amerika macht eine grosse Unternehmenssteuerreform, China investiert Milliardenbeträge in Künstliche Intelligenz und westliches Know-how – und Deutschland re(a)giert auf der Basis eines 179 Seiten starken, alles andere als wirtschaftsfreundlichen Koalitionsvertrags. Oder wie die NZZ in einem Kommentar so schön schreibt: „Mit dieser Koalitionsvereinbarung geht Deutschland vorwärts in die Vergangenheit.“ Die NZZ sieht die deutsche Wirtschaft dabei als weiteren Verlierer des Koalitionsvertrags.

Auch vor diesem Hintergrund muss heute die Frage erlaubt sein, ob und wie lange diese Koalitionsvereinbarung in der vorliegenden Form überhaupt Bestand haben wird. Aber sie liegt erst einmal vor – und man hat sich daran zu orientieren.

Es steht noch ein Mitgliederentscheid der SPD zur GroKo mit ungewissem Ausgang an, es gibt Unmut in der eigenen Partei CDU/CSU über den Koalitionsvertrag und die Ergebnisse der Verhandlungen. Auch die in Bayern verankerte CSU steht vor schwierigen Monaten, steht im Herbst 2018 doch die angesichts der AfD-Wahlerfolge politisch schwierige Landtagswahl vor der Türe – mit einem neuen designierten Ministerpräsidenten Markus Söder an der Spitze. Die CSU steckt mitten im Umbruch, auch personell. Die machtpolitischen und inhaltlichen Verhältnisse bei der SPD sind heute aus einer Aussenperspektive völlig unklar, auch wenn die Führungsmannschaft nach aussen Stärke und Einigkeit demonstriert. Die einst so stolze Arbeiterpartei und „Partei des kleinen Mannes“ gilt aber als tief gespalten, wie die Diskussion um eine GroKo-Teilnahme im Januar und der anstehende Mitgliederentscheid zeigen. Fraglich ist in diesem Kontext auch, wie die Partei mit einem neuen Aussenminister Martin Schulz umgeht – und mit dem gefallenen Sigmar Gabriel, der den internen Machtkampf gegen Martin Schulz und die neue SPD-Vorsitzende Andrea Nahles verloren hat. Auch bei der SPD erscheinen bis zu einer definitiven, stabilen Regierungsbeteiligung noch Überraschungen möglich – inhaltlich wie personell.

Die Ankündigung eines möglichen RX-Verbots zeigt, dass neue bzw. erneut regulatorische Risiken für die Versender im Raume stehen. Diese darf man nicht ignorieren. Allerdings: Noch ist nichts passiert, und es ist auch fraglich, ob – und wie schnell – überhaupt etwas in Richtung RX-Versandverbot passieren wird. Es gibt, auch am Tag 1 nach dem Koalitionsvertrag, Marktbeobachter wie den Rechtsanwalt Dr. Morton Douglas (siehe Apotheke Adhoc vom 8.2.2018), die davon ausgehen, dass kein RX-Versandverbot kommen wird und es stattdessen einen dritten Weg geben müsse. Selbst die Apotheke Adhoc empfiehlt in einem lesenswerten Kommentar den Apothekern, nach dem Sekt anlässlich der Freude über ein „RX-Versandverbot“ die Kopfschmerztabletten bereit zu halten – weil dessen Umsetzung auf Widerstand stossen wird und in letzter Konsequenz auch unsicher ist.

Die Zur Rose-Gruppe hatte nachbörslich am 7. Februar 2018 infolge des Kursabsturzes in einer Stellungnahme angekündigt, im Interesse der Patientinnen und Patienten sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene alle notwendigen juristischen und operativen Schritte zu unternehmen. Mit Blick auf die Zur Rose-Historie darf man unterstellen, dass die Unternehmensleistung ihren Worten Taten folgen lässt – wenn das RX-Versandverbot käme. Eine vergleichbare Stellungnahme verschickte der Wettbeweber Shop Apotheke. Auch der Bundesverband der Versandapotheken meldete sich zu Wort und verwies auf verfassungs- und europarechtliche Bedenken, bot aber gleichzeitig an, der Politik für Gespräche über Alternativen zu einem RX-Versandverbot zur Verfügung zu stehen.

Am Ende ist es – über ein mögliches RX-Versandverbot hinausgedacht – auch so, dass die aktuellen Probleme der stationären Apotheken, die von der CDU/CSU geschützt werden sollen, durch das Verbot des RX-Versandhandels nicht gelöst werden, weil die Probleme deutlich vielschichtiger sind. Und es ist auch zu kurz gesprungen, für das in Deutschland beobachtbare „Apothekensterben“ alleine die Konkurrenz durch den Versandhandel verantwortlich zu machen und die stationären Apotheken mit einem generellen RX-Versandverbot quasi unter „Artenschutz“ zu stellen. Der Apothekenmarkt ist strukturell in einem Umbruch – und auch mit einem RX-Versandverbot werden die Ursachen für Probleme in diesem Markt nicht gelöst, sondern nur kaschiert und verzögert.

Viele andere Faktoren spielen beim „Apothekensterben“ und der rückläufigen Zahl von (Land-)Apotheken eine Rolle, so eine zunehmende Regulierung mit erweiterten Aufzeichnungs- und Dokumentationspflichten, ein Rückgang von (Land-)Arztpraxen, Mietpreisanstiege, ungelöste Nachfolgeregelungen auch aufgrund des in Deutschland herrschenden Fremdbesitzverbots, Änderungen beim Arbeitsrecht, Lohnkostensteigerungen, „Investitionsstau“ im Betrieb usw.

Ein „Sterben“ von kleinen Betrieben gibt es – und dort gibt es keinen Versandhandel – beispielsweise auch bei Bäckereien, Metzgereien oder Gastronomiebetrieben im städtischen Umfeld genauso wie im ländlichen Raum, auch wenn jede einzelne Branche ihre eigenen Probleme hat und nicht mit den Apotheken vergleichbar ist.

Der klassische Apotheker, der sich – zurecht – von der Ausbildung und in seinem Berufsverständnis primär als Heilberufler sieht, musste in den letzten Jahren – ironischerweise forciert auch von der Politik – immer mehr zu einem betriebswirtschaftlichen und juristischen Multitalent mit vielen Fähigkeiten entwickeln: Buchhaltung, Bilanzierung, Steuerrecht, Arbeitsrecht, Mietrecht, Apothekenrecht, Wettbewerbsrecht, Investitionsrechnung, IT, Datenbanken usw. – und beinahe nebenbei auch noch die Apotheke führen und Personalverantwortung haben. Von „Work-Life-Balance“ ganz zu schweigen. Kein Wunder, dass manch ein freiberuflicher Apotheker lieber wieder zum angestellten Apotheker wird – und damit neue Lebensqualität gewinnt. Freiberufliche Ärzte in Deutschland sind mit ähnlichen Problemen konfrontiert, weshalb auch dort Rückgänge von Arztpraxen nicht nur im ländlichen Raum zu beobachten sind. Nicht jeder Arzt und Apotheker ist auch zum Unternehmer geboren, obwohl ein Arzt und Apotheker heute Unternehmer sein muss. Und gleichzeitig oberster „Verwaltungsbeamter“ im eigenen Haus.

Wenn die Politik den Apotheken – und unzähligen anderen Kleinunternehmern aus verschiedenen Branchen – tatsächlich und nachhaltig helfen wollte, wäre – noch vor irgendwelchen Markteingriffen und Verboten – der erste Schritt, zum Beispiel die krebsartig wuchernde Bürokratie für Klein- und Kleinstunternehmer zu bekämpfen. Gerade Klein- und Kleinstunternehmen mit motivierten Inhabern sind das Rückgrat einer Volkswirtschaft, doch leider passiert an dieser Stelle wenig. Und auch im vorliegenden Koalitionsvertrag muss der Eindruck entstehen, dass „Bürokratie“ und immer noch mehr Regulierung auch in den nächsten Jahren eine sehr dynamisch wachsende Branche sein wird. Doch Regulierung und Bürokratie verursachen im System Kosten – die irgendjemand bezahlen muss.

Mehr Staat, mehr Regulierung, weniger Markt, weniger Eigenverantwortung, weniger Selbstbestimmung und weniger Freiheit – das ist auch eine der Botschaften des deutschen Koalitionsvertrags.

Beim Blick auf den geschrumpften Zur Rose-Kurs bewegen wir uns heute in einem weiten Feld der Spekulation mit ungewissem Ausgang. Klar ist: Die Unsicherheit ist mit Vorlage des Koalitionsvertrags und einzelnen Passagen über ein mögliches RX-Versandverbot gewachsen. WENN das RX-Versandverbot käme und alle von Zur Rose und anderen noch in Deutschland und Europa anzustrengenden juristischen Klagen erfolglos wären, hätte dies sicherlich einen erheblich negativen Effekt auf die Gruppe. Nach den Ende Januar 2018 kommunizierten vorläufigen Umsatzzahlen 2017 entfielen gut 27% des gesamten Gruppenumsatzes von 983 Mio. CHF oder ca. 266 Mio. CHF (+12.4%) auf den RX-Bereich im Segment Deutschland (DocMorris). Innerhalb des Segments Deutschland (483 Mio. CHF) machte das RX-Geschäft etwa 55% aus, aufgrund des starken OTC-Geschäfts zuletzt relativ rückläufig.

In einem Worst-Case-Szenario könnte dieser RX-Umsatz in 1 bis 2 Jahren bei einem RX-Verbot weitestgehend wegbrechen, wenn es nicht gelingt, diese Umsätze anderweitig – etwa durch Zuwächse im OTC-Geschäft oder die Expansion in Länder mit erlaubtem Versandhandel – ganz oder zumindest teilweise zu kompensieren.

„Panik“ erscheint in diesem sehr frühen Stadium der politischen Prozesse (noch) nicht angezeigt, auch wenn die Märkte anderes suggerieren und die Börse bereits im Panikmodus ist. Dennoch gilt es, aufmerksam zu sein und die Marktentwicklungen zu beobachten. Die Aktienkursreaktion mit einem Rückgang um über 20% in der Spitze erscheint – Stand heute – dennoch übertrieben, denn gerade Zur Rose mit dem stabilen, zuletzt sogar dynamisch wachsenden Schweizer Geschäft und der Positionierung an verschiedenen Schnittstellen eines zunehmend vernetzten Gesundheitswesens bietet eben auch mehr als „nur“ Doc Morris und RX-Versandhandel. In diese Kategorie fallen etwa die Erfolge der Zur Rose-Gruppe in Zusammenarbeit mit der Migros bei den Shop-in-Shop-Apotheken, der dabei verfolgte „Omnichannel-Ansatz“ und weitere Initiativen im Bereich des elektronischen Rezepts.

Angesichts der kurzfristigen, politischen Risiken drängen sich Neuengagements aktuell nur für risikobereite Akteure auf, die davon ausgehen, dass ein generelles RX-Versandverbot in Deutschland nicht kommen wird – in welcher politischen Konstellation auch immer. Alle anderen Akteure warten, bis sich der aktuelle Pulverdampf über dem Aktienkurs gelegt hat und man auch politisch klarer sieht, wohin bei der Zur Rose-Gruppe (und in der deutschen Innenpolitik) die Reise geht und wie sich das Geschäft operativ weiterentwickelt, auch etwa mit Blick auf angekündigte weitere Übernahmen im OTC-Geschäft oder die europäische Expansion.

Transparenzhinweis: Der Verfasser ist an der Gesellschaft beteiligt.

1 Kommentar

Kommentar verfassen