Kandidat zwei aus der IPO-Pipeline der SIX Swiss Exchange im noch jungen Jahr 2018 ist das Medizinaltechnik-Unternehmen Medartis. Auch dieser Börsengang erfolgt kurzfristig, obwohl schon seit mehr als 10 Jahren darüber spekuliert wurde. Was können die neuen Aktionäre angesichts der ehrgeizigen Bewertung noch erwarten?
Über die Details zum Börsengang hat Medartis die Öffentlichkeit bereits am 12. März, zeitgleich mit Sensirion, informiert. Wie die Sensoren von Sensirion sind auch die Metallimplantate für die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (MKG) sowie die Hand- und Fusschirurgie ein struktureller Wachstumsmarkt, weshalb sich ein genauerer Blick auf den Markt, die Dynamik und die Wettbewerbsposition von Medartis vor einem möglichen Engagement empfiehlt.
Marktvolumen und Zielmärkte
Während der globale Markt für Ortho- oder Knochen-Implantate ca. 50 Mrd. USD ausmacht und aus verschiedenen Gründen nur mir jährlichen Raten von 2-4% wächst, weisen die von Medartis bearbeiteten Segmente höhere Wachstumsraten auf, die das Management mit 6% p.a. beziffert. Das relevante Marktvolumen habe 2016 bei 6,6 Mrd. USD gelegen.
Entstehungsgeschichte
Gründer und Grossaktionär Thomas Straumann hatte das Unternehmen 1997 ausgegründet, da beim für 1998 bevorstehenden Börsengang der Straumann AG die emissionsbegleitende Bank UBS auf ein „Pure Play“ der Dentalsparte hinwirkte. Um das IPO der Familiengesellschaft Straumann nicht zu gefährden, bündelte Straumann die Osteosynthese-Aktivitäten (Knochenheilkunde) und brachte sie in die Medartis AG ein. Somit war Medartis zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt ein Start-up, sondern vom Start weg, laut Gründer Straumann, die Nr. 7 oder 8 im primären Zielmarkt MKG. In diesem Teilmarkt lagen und liegen die Kernkompetenzen. Bis 2005 war Medartis laut Straumann auf Position 3 oder 4 vorgerückt, hatte gerade eine Tochter in den USA gegründet und 90 Mitarbeitende. Zum Vergleich: Die seit 1998 börsenkotierte Straumann AG hatte die mit dem IPO verbundenen hohen Ziele erreicht, war deshalb jahrelang eine der am besten performenden Aktien an der Schweizer Börse und beschäftigte 1’100 Mitarbeiter. Im Vorjahr, 2004, hatte der Umsatz 420 Mio. CHF ausgemacht und das EBIT 127,7 Mio. CHF.
Vorgeschichte, Fortschritt und Expertise
Tatsächlich reicht die Expertise sogar noch sehr viel weiter zurück, was das hohe persönliche Engagement von Straumann erklärt. Wie so oft in der Schweiz liegen die eigentlichen Wurzeln auch bei Straumann in der Uhrenindustrie. Das Wissen um Legierungen und Metallbearbeitung hatte den Gründer der heutigen Straumann Holding, Prof. Reinhard Straumann, bereits 1954 dazu veranlasst, die Vorläufergesellschaft Straumann Forschungsinstitut AG in Waldenburg, Jura, auf andere Anwendungen blicken zu lassen. Der Einstieg in die Zahnimplantologie erfolgte Ende der 1960er Jahre. Bereits 1974 lag ein revolutionäres System vor, bei dem nach dem Verlust eines Zahnes eine künstliche Zahnwurzel aus Titan im Kiefer verankert wurde, die den implantierten Zahn dann festhielt. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden bei Verlust eines Zahnes die Nachbarzähne abgeschliffen, um den Zahnersatz dann an ihnen befestigen zu können. Mit dem neuen System, das Straumann mit der Berner Universität entwickelt hatte, blieben erstmals die Nachbarzähne vollständig intakt. Ein wahrer Fortschritt!
Buy-out, Übernahme und andere Liquidity Events
Dennoch dauerte es lange, bis daraus das erfolgreiche und grosse Unternehmen wurde, das Straumann heute ist. 1988 musste Thomas Straumann plötzlich die Geschicke des Unternehmens lenken, nachdem sein Vater verstorben war. 1990 erfolgte ein Buy-out der bis dahin integrierten Osteosynthese-Sparte durch Rudolf Maag. Später wurde daraus Synthes und wurde von Johnson & Johnson aufgekauft. Straumann erzielte 1990 gerade 15 Mio. CHF Umsatz und beschäftigte 25 Mitarbeiter. Der CEO konzentrierte sich auf die orale Implantologie. Nach und nach wurde die Marktführerschaft in Ländern wie Deutschland, Italien und Japan erarbeitet. Doch der grösste Markt, die USA, wies hohe Markteintrittsbarrieren auf. Um diese nachhaltig zu überwinden, fiel die Entscheidung 1998, das Straumann IPO durchzuführen. Mit den aufgenommenen Mitteln sollte die Marktpenetration dann gelingen. Da der Familienunternehmer Straumann zu diesem Zeitpunkt nicht mehr CEO und VRP war, sondern nurmehr VR und Grossaktionär, konnte er sich dem Aufbau von Medartis widmen, was ihm auch ein Anliegen war.
Medartis – reif für die Börse
Inzwischen ist Medartis gewachsen und erreichte 2017 einen um 14,1% gesteigerten Umsatz von 107,9 Mio. CHF. Ähnlich wie seinerzeit bei der Straumann AG ist die Stellung in Europa gut, doch auf die USA entfallen nur 18%, auf Asien-Pazifik 19%. Die USA sind in der globalen Betrachtung immer noch der grösste Markt, China und Indien weisen dagegen die höchsten Zuwachsraten auf. Um die weiteren Marktchancen von Medartis evaluieren zu können, muss man auch einen Blick auf die Wettbewerber werfen. Deutlich mehr als die Hälfte des Ortho-Marktes, fast 60%, teilen sich die fünf grössten Konzerne, die jeweils in den meisten Teilmärkten aktiv sind. Auf die nächsten 10 grössten Unternehmen entfallen nochmals 15%. Alle anderen Anbieter kommen gemeinsam auf kaum 25%. Übernahmen sind nicht gerade selten.
Small Bones – ein kompetitives Marktsegment
Die von Medartis bearbeiteten Teilmärkte sind jeweils Bestandteil verschiedener Subkategorien. Was MKG und Hand und Fuss dagegen gemein haben, ist, dass es um kleine Knochen geht, die wiederum eine besondere Expertise erfordern. Die Ausweitung der Produktpalette von Gesicht und Kiefer zu den Extremitäten macht Sinn, da es um ähnliche Herausforderungen bei der Knochenrekonstruktion oder dem -ersatz geht. Ziel von Medartis ist es, einer der Top 3 Player im sogenannten „Small Bone Segment“ zu werden. Dieses Segment haben aber auch die grossen Konzerne im Visier, ebenso viele Start-ups. DePuy-Synthes, die Medtech-Sparte von Johnson & Johnson, erwarb 2016 Biomedical Enterprises, um das „small bone portfolio“ zu stärken. Stryker hatte bereits 2014 Small Bones Innovations für 375 Mio. USD gekauft. Insbesondere in China und Indien sind aufgrund der schieren Grösse der Märkte jedoch auch zahlreiche lokale Wettbewerber entstanden, z.B. Sharma Orthopedic, Ortho Care und XL-Orthomedic in Indien oder Weigao, Suzhou Xinrong Best Medical Instruments und Kanghui in China. Die sind zwar oft auf einzelne Bereiche spezialisiert und können bei der Qualität meist noch nicht ganz mithalten, lernen jedoch schnell und haben den Heimatvorteil.
3D, Tissue Engineering und neue (Bio-)Materialien
Wettbewerb für herkömmliche Implantate aus Metall-Legierungen kommt jedoch auch durch 3D-Druck, durch Tissue Engineering und neue Materialien. So ist ein bio-absorbierfähiges Implantat, das sukzessive durch die natürliche Knochenregeneration ersetzt wird, wo möglich, einem Metallimplantat überlegen. Bei Betrachtung der Vollkosten reduzieren solche Verfahren auch die notwendige Anzahl der Operationen, die in aller Regel trotz minimal-invasiver Techniken und dem Einsatz von Operationsrobotern immer noch den grössten Kostenblock repräsentieren.
Der Small-Bone-Markt ist aber auch deshalb bei den Medtech-Unternehmen im Fokus, weil einerseits die Menschen in allen Regionen der Welt immer älter werden, was naturgemäss zu mehr Frakturen führt, andererseits aber auch, weil durch Sport und Fitness immer mehr Unfälle passieren, die insbesondere an Händen, Füssen und Köpfen zu Frakturen führen.
Positionierung im Wettbewerb
Zusammenfassend gesagt ist Medartis in attraktiven Teilmärkten tätig und bringt eine Expertise mit, die in der Knochenheilkunde auf eine lange Erfahrung zurückgreifen kann. Die erfolgreiche Entwicklung des Dentalimplantologie-Unternehmens Straumann wiederum führt zu einem Know-how-Vorsprung bei Marketing und Zusammenarbeit mit Forschungsinstituten, Ärzten und Fachkliniken. Diese schon in die ersten Schritte bei der Entwicklung neuer Produkte und Verfahren einzubeziehen, ist Teil des Straumann-Erfolgsrezeptes. Dennoch sind die Märkte heiss umkämpft und werden durch fünf grosse Konzerne dominiert. Zudem steigt der Wettbewerb aus den Emerging Markets sowie durch neue Materialien, Verfahren und Techniken. Innovationen bergen jedoch immer auch Risiken für die etablierten Strukturen, was Investoren nicht übersehen können. Die Wachstumsraten, die in den von Medartis bearbeiteten Märkten zu erwarten sind, liegen auf längere Sicht näher bei 5% p.a. als bei 10%. Dennoch können Innovationen sowie smarte Marketing- und Distributionsstrategien, Zukäufe und der Eintritt in neue Märkte auch für höhere, d.h. niedrige zweistellige Zuwachsraten sorgen.
Market Cap und Free-Float
Werden alle Aktien gezeichnet, am oberen Ende der Bookbuildingspanne zugeteilt und auch der Greenshoe vollständig ausgeschöpft, sind 24% (nach Managementangaben und 25,8% nach Reuters) des Aktienkapitals im Free-Float. Dessen Wert würde dann 142,5 Mio. CHF entsprechen, was bedeutet, dass die Market Cap etwa 560 Mio. CHF ausmacht. Das ist etwa 5x der Umsatz von 2017 und 70x der Reingewinn, allerdings um den Sonderfaktor US-Steuerreform bereinigt. Selbst unter der Annahme eines überdurchschnittlichen Umsatzwachstums und einer Ausweitung der Gewinnmarge erscheint mit dieser IPO-Bewertung schon sehr viel vorweggenommen zu sein. Die gesuchten neuen Aktionäre brauchen einen begründeten Anreiz auf Kurssteigerungen. Auch bei einem IPO-Preis am unteren Ende der Bookbuilding-Spanne, also 44 CHF, wäre die Bewertung auf Basis der Kennzahlen zu hoch, um eine nennenswerte Kursfantasie zu begründen. Zudem fragt sich, warum ehemalige Kreditgeber dann Wandelanleihegläubiger wurden und nun, bevorzugt, Aktien aus dem bedingten Kapital mit 15% Rabatt (!) erhalten?
Alternative Betrachtung
In einer alternativen Betrachtung könnte die Börsenkotierung strategisch für eine Serie von Übernahmen genutzt werden, wie im Vorjahr die des brasilianischen Distributors Extera. Erwähnenswert, weil Brasilien für Medartis der drittgrösste Markt ist. Präsenz vor Ort zu zeigen und ein aktiver Teil des vom Medartis-VR zitierten „Verdrängungswettbewerbs“ zu sein, könnte an der Börse zu einer „Konsolidator-Prämie“ führen – realistisch, weil Straumann sehr gut gemanaged war und ist. Der Weg zu mehr Kapital bei geringerer Verwässerung ist jedenfalls für Medartis durch die Kotierung gegeben. Auch die hochprofitable Straumann AG hat im September 2017 über ein Secondary Offering 228 Mio. USD an Eigenkapital aufgenommen.