Die aktuellen Mächteverhältnisse im US-Detailhandel manifestieren sich anhand eines einfachen Vergleichs. Die Warenhauskette Sears wurde durch kurzfristige Verbindlichkeiten in der Höhe von 134 Millionen in den Bankrott getrieben. Die gleiche Summe hätte dem Internetriesen Amazon nur etwa einen Zwanzigstel weniger Gewinn in die Kasse gespült. Derzeit ist Amazon das zweitwertvollste Unternehmen der Welt. Allein in die Forschung steckt der Handelsriese 16,1 Milliarden US-Dollar. Wie bereits im Buchhandel wird der Internetgigant aus Seattle auch den Einzelhandel gehörig umkrempeln. Der Niedergang von Sears ist wohl die spektakulärste, aber nicht die einzige Pleite im amerikanischen Retail-Sektor. Die Warenhausketten J.C. Penney und Macy’s kämpfen ums Überleben, der Spielzeuggigant Toys «R» US ist bereits Geschichte.
Grosse Namen, mit denen Generationen von Amerikanern aufgewachsen sind, müssen derzeit Tausende Filialen schliessen, Arbeitsplätze abbauen oder stehen vor dem endgültigen Aus. Für das Leiden, das die Übermacht des E-Commerce-Riesen bei den Einzelhändlern verursacht, haben Analysten mittlerweile einen Fachbegriff kreiert: der Amazon-Effekt. Das milliardenschwere Unternehmen hat enorm viel Geld für den Aufbau einer komplexen Liefer- und Lagerinfrastruktur ausgegeben, über die heutzutage fast alle Produkte günstig und schnell per Mausklick geordert werden können. Amazon-Chef Jeff Bezoz verspricht anhaltendes Turbo-Wachstum: Er will weiter kräftig investieren, um der Konkurrenz noch mehr Kunden abzujagen.
Für die aktive Eroberung des Einzelhandels durch Amazon sprechen zwei Dinge. Erstens genügt es, eine Statistik zu betrachten, für welche Geschäftsbereiche das Unternehmen Stellen anbietet, um die Entwicklungsprioritäten zu erkennen. Abgesehen vom Kerngeschäft ist Retail (Rotes Segment in Grafik) der grösste Entwicklungsbereich, wo das Unternehmen Stellen aufbaut.
Doch Amazon wird noch einen Schritt weiter gehen und sich eines Sektors annehmen, bei dem er noch nicht so richtig Fuss gefasst hat. Mit der letztjährigen Übernahme der amerikanischen Supermarktkette Whole Foods wird Amazon die benötigte operative Erfahrung im Lebensmittelbereich aufbauen. 2016 erzielte die Kette einen Umsatz von 15.7 Milliarden US-Dollar. Es existieren insgesamt 460 Läden, wobei die meisten in den USA sind. Kanada und Grossbritannien besitzen ebenfalls einige Geschäfte. Whole Foods dient Amazon sozusagen als Laboratorium. Gegenwärtig testet der Internetriese neue Verbindungen oder Kombinationen zwischen dem Online- und dem stationären Handel. Das Ziel lautet, bei Lebensmitteln genauso auf den Preis zu drücken wie bei anderen Produkten im Amazon-Kanal. Schlagartig besitzt Amazon nun ein ganzes Arsenal im Detailhandel, d.h. qualitativ hochstehende Eigenmarken, ein grosses Netzwerk an Läden, eine Lieferschiene inklusive Kühlkette sowie eine zahlungskräftige Kundenbasis. Dann wäre es nur noch ein virtueller Sprung über den Teich zu den europäischen Kunden. In Deutschland, der grössten EU-Wirtschaft, scheint man sich offenbar im Klaren darüber, dass der Gegner kein Federlesens macht.
Frischehandel hebt nicht so recht ab
Dem deutschen «Handelsblatt» hat Rewe-Chef Lionel Souqe anvertraut: «Amazon ist eine Kampfmaschine». Man dürfe den US-Konzern nie unterschätzen, schon wegen der immensen Finanzkraft des Unternehmens. Zwar ist es vorübergehend etwas stiller geworden um die Expansion des Online-Lebensmittel-Lieferdienstes Amazon Fresh in Deutschland, der sich nur auf Frischware spezialisiert hat. Einerseits liegt das wohl an den Konsumentenbedürfnissen. In einer aktuellen Umfrage des Consulting-Unternehmens Oliver Wyman wurden 1000 deutsche Konsumenten befragt: 44 Prozent davon erklärten, dass sie «mangelndes Vertrauen in die Produktqualität von einem Online-Kauf von Frischwaren» abgehalten hat. Weitere Hindernisse sind zu lange Lieferzeiten oder zu hohe Lieferkosten. Nachdem Amazon den Lieferdienst in Berlin, Potsdam, Hamburg und München als Pilot und mit Zusammenarbeit von DHL gestartet hat, steht zunächst die Verbesserung und der Ausbau an den vorhandenen Standorten im Mittelpunkt und nicht das Erschliessen weiterer Standorte.
Insgesamt setzt der deutsche Lebensmittelhandel rund 200 Milliarden Euro um. Nur zwischen 1 und 2 Prozent davon werden im Internet realisiert. Was die Kunden vom Onlinedienst Amazon Fresh beziehen, hat das Marktforschungsunternehmen Mafowerk in Nürnberg kürzlich untersucht. Dafür wurden rund 2000 Konsumenten befragt. Interessant ist, dass über die Hälfte der Befragten Süsswaren gekauft hat. Danach folgten Teigwaren, Kaffee, Getränke.
Für Frischeprodukte hingegen wie beispielsweise Fleisch, Fisch oder grünen Salat meiden die Kunden den Online-Kanal. Sind für die Supermärkte die Frischwaren das letzte Bollwerk gegen den E-Commerce-Ansturm? Tatsache ist, dass Frische-Labels in Deutschland und der Schweiz hoch in der Käufergunst stehen. Die Milch, der Käse oder der Jogurt verkaufen sich besser mit dem Frischesiegel vom regionalen Bauernhof. Das suggeriert Heimatverbundenheit und Qualität.
Frischwaren gehören am gleichen Tag auf den Tisch
Wer den Onlinelebensmittelmarkt beherrschen will, muss sich zuerst mal der Lieferproblematik widmen und hier innovative Wege finden. Leichter gesagt, als getan. Es liegt in der Natur von Frischwaren, dass sie leicht verderben. Jedes Produkt muss bei der richtigen Temperatur gelagert werden, jede Bestellung muss so rasch wie möglich erfolgen. Staus auf den Strassen sind von vornherein ausgeschlossen. Und die Lieferung muss am gleichen Tag wie die Bestellung erfolgen, denn bei den meisten gehört die Frischeware gleich am Abend auf den Tisch. Hier müssen also sehr enge Zeitfenster ausgenützt werden. Im schlimmsten Fall muss ein Lieferwagen mehrmals pro Tag den genau gleichen Weg fahren, was ökologisch unsinnig ist, hohe Kosten verursacht und – last but not least – den Stau auf den Strassen ankurbelt, den man doch vermeiden sollte. Es führt kein Weg an Lieferkosten oder Mindestbestellmengen vorbei. Doch gerade Letzteres wirkt demotivierend für die Kunden, denn es entspricht dem Wunsch vieler Verbraucher, kleine Mengen für den Sofortkonsum zu bestellen. Doch Amazon wäre nicht Amazon, wenn sich das Unternehmen von solchen Schwierigkeiten nicht herausgefordert sähe. Neue Ideen müssen her. Das so genannte Um-die-Ecke-Denken ist gefragt. So liesse sich der Break-even erreichen, wenn der Kunde zusätzlich zu den Frischwaren auch ein oder zwei Non-Food-Artikel mit eher hohen Margen dazukauft. Amazon verfügt hier über einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil, den die meisten Einzelhändler in diesem Ausmass nicht besitzen.
Einen wahrhaften Innovationsschub sollten neue Services auslösen, die sich die derzeit laufenden Entwicklungen in der künstlichen Intelligenz zunutze machen, um die Kunden bei der Planung der Mahlzeiten zu unterstützen. Dazu gehören vorgefertigte Einkaufszettel, aufgrund von Kundenprofilen erstellte Gerichte-Empfehlungen oder der Einsatz von Alexa, dem sprachbasierten Mädchen-für-alles-Assistenten von Amazon. So würde es genügen, Alexa zuzurufen, was am Abend auf den Tisch soll. Intelligente Dienste wüssten genau, was noch vorrätig ist und würden Bestellungen automatisch auslösen, falls noch etwas für das Rezept fehlt. Je mehr Angaben Amazon über die Kundenvorlieben erhält, desto eher könnte Amazon als digitale Haushalts- und Küchenhilfe agieren. In vieler Hinsicht wird das Lebensmittelgeschäft zum Daten- und Informationsgeschäft.
Kunden wünschen weiterhin stationären Offline-Kanal
Und wie steht es mit dem Schweizer Markt? Weiterhin hat Amazon keine dedizierte Schweizer Website. Bestellungen und Lieferung laufen weiterhin über die verschiedenen Länder-Sites wie Amazon Deutschland oder Amazon Frankreich. Seit etwa zwei Jahren reissen die Spekulationen nicht ab, wann und wie der Internetgigant seinen Markteintritt in die Schweiz plant. Die Nerven in der Retail-Szene waren angespannt, als im letzten Herbst Gerüchte laut wurden, dass die Schweizerische Post mit Amazon in Verhandlung wäre. Im Frühling 2018 dann die Bestätigung: Tatsächlich hat die Post mit den Amerikanern einen Vertrag unterschrieben, der die Verzollung und Lieferung von Amazon-Paketen vereinfachen soll, da die Sendungsabwicklung aufgrund eines fehlenden Amazon-Lagers in der Schweiz kompliziert ist. Der Aargauer Zeitung gab Post-Chef Hurni bekannt, er rechne nicht mit einer baldigen Marktoffensive von Amazon.
Dieser Meinung schliesst sich der Retailexperte von Credit Suisse, Sascha Jucker, an. Jucker glaubt nicht, dass Amazon hierzulande eine Revolution startet. «Wir gehen nicht davon aus, dass Amazon die gleiche Dominanz erreichen wird wie etwa in Deutschland», betont er. Die Struktur des Onlinehandels ist in der Schweiz viel heterogener: Unter den Top 15 der Online-Anbieter in Bezug auf Umsatz in der Schweiz befinden sich neben Digitec Galaxus (Platz 1) auch weitere bekannte Schweizer Brands wie Nespresso, LeShop und Coopathome. Das musste schon ein anderer US-Onlinehandelsriese erkennen: eBay, mittlerweile vor allem eine Plattform für professionelle Verkäufer, konnte sich in der Schweiz nie richtig durchsetzen. Doch auch Schweizer Neulinge wie das Joint-Venture zwischen Swisscom und Coop namens Siroop mussten spüren, dass hohe Werbebudgets alleine nicht reichen, um sich in diesem umkämpften Markt einen Platz zu sichern.
Die Auflösung von Siroop zeigt vor allem, wie verbittert die Schweizer Detailmarktführer Migros und Coop derzeit um die Dominanz im Online-Geschäft kämpfen. Coop-Chef Joos Sutter hat diesen Mai den Misserfolg als Neuanfang kommuniziert, denn die Online-Händler von Siroop sind vom Coop-Kanal Microspot übernommen worden. Noch gleichentags veröffentlichte die Migros-Tochter Digitec Galaxus eine Medienmitteilung, in der sie eine Kooperation mit der Premium-Möbelmarke Teo Jakob ankündigte. Coop konterte mit der Mitteilung zu einer Warenlagereröffnung in Jegenstorf, wo der Online-Handel der Plattformen Microspot und Interdiscount künftig abgewickelt werden. «Es ist ein harter Kampf um die Nummer 1 im Schweizer Onlinehandel» sagt Patrick Kesser, Präsident des Schweizer Versandhandels (VSV), gegenüber «Bilanz». «Keiner der beiden mag dem anderen etwas gönnen», beobachtet Thomas Lang vom E-Commerce-Berater Carpathia.
Wenn sich der Markteintritt von Amazon in die Schweiz verschiebt, bleibt es dem hiesigen Detailhandel nicht erspart, sich in den nächsten Jahren neu zu positionieren. Während sich die Konsumentenstimmung nach dem Euro-Franken-Schock vor einigen Jahren inzwischen erholt hat, sind die Umsätze im Detailhandel immer noch stark unter Druck. Das wird sich auch im kommenden Jahr nicht wesentlich ändern, schreibt Credit Suisse. Der Strukturwandel habe sich zwar abgeschwächt, aber es müsse weiter mit Konkursen und Veränderungen im Detailhandel gerechnet werden. «Es betrifft vor allem kleinere Unternehmen, wodurch das Thema etwas aus dem Fokus der Medien geraten ist, aber die Umwälzung ist nicht vorbei», ergänzt Jucker. Das könnten auch stützende Faktoren wie das Bevölkerungswachstum und die weiterhin positive Konsumentenstimmung nicht wettmachen.