Trotz oder gerade wegen der etwas unglücklichen Umstände bei der Kapitalerhöhung der Zur Rose Group und der derzeit schwachen Verfassung der Aktienmärkte soll an dieser Stelle der Versuch einer distanzierten Evaluierung der Aktie an der Schwelle zum Jahr 2019 unternommen werden. Denn trotz der Enttäuschung vieler Anleger mit Blick auf die schwache Kursentwicklung bleibt doch der Investment Case selbst bei einer nur mittelfristigen Perspektive durchaus überzeugend. Seit den IPOs von erst Shop-Apotheke und dann Zur Rose in 2017 wurden nicht zuletzt durch Übernahmen etliche Fakten geschaffen, die auch Auswirkungen auf die Marktdynamik haben und somit für strategisch denkende Investoren von Interesse sind.
Digitale Migration
Der wesentliche Faktor bei einer nüchternen Betrachtung des Investment Case von Zur Rose besteht darin, nicht ausser Acht zu lassen, um was es eigentlich geht: die Migration eines Teils des europäischen Pharmamarktes von stationären Apotheken zu Online-Plattformen!
Marktvolumen
Der europäische Pharmamarkt belief sich 2015 auf insgesamt 146 Mrd. CHF. Auf EU-Ebene liegt die sogenannte Penetrationsrate digitaler Kanäle unter Ausklammerung von Deutschland immer noch bei relativ niedrigen 3,2%, jedenfalls bezogen auf OTC- und Beauty-Produkte. Europaweit liegt der E-Commerce Anteil bei etwa 2% und in Deutschland, dem mit Abstand grössten Markt, trotz der Werbekampagnen im rezeptpflichtigen Segment bei gerade einmal 1,3%. Im OTC- und Beauty-Bereich beträgt die Penetrationsrate in Deutschland dagegen bereits 17%.
E-Commerce Marktpenetration
Es gibt Länder mit höheren Penetrationsraten wie Österreich mit 6,4% (2016), Schweden mit 10% (2018) inklusive OTC und Beauty Produke, die Schweiz mit ebenfalls 10%, allerdings nur bezogen auf den Markt der verschreibungspflichtigen Arzneimittel, sowie die USA mit 25% (2015), ebenfalls inklusive OTC und Beauty Produkte.
Marktwachstum
Für die EU ohne Deutschland prognostizieren die fachlich sehr fundierten Marktstudien (Sempora) für den E-Commerce im OTC- und Beautybereich (BPC) ein Marktwachstum von 26% jährlich zwischen 2016 und 2021, von 527 Mio. CHF auf 1.7 Mrd. CHF. Bis 2021 soll die Penetrationsrate auf 8,3% ansteigen.
Deutschland und Schweiz
Bisher entfällt fast das gesamte Umsatzvolumen von Zur Rose auf den Heimatmarkt Schweiz und Deutschland. In diesen Märkten beträgt das Pharmahandelsvolumen in der Schweiz 4.4 Mrd. CHF (2017) sowie 45.5 Mrd. CHF in Deutschland (2016). In der Schweiz repräsentieren rezeptpflichtige Arzneimittel 76% des Volumens, in Deutschland sind es 84%. Das Marktwachstum in der Schweiz lag zwischen 2007 und 2017 bei 2,2% p.a. Für die vor uns liegenden Jahre wird eine Wachstumsrate von 2% jährlich prognostiziert. In Deutschland wird mit einer Zuwachsrate von 4% jährlich gerechnet.
In der Schweiz lagen die Gesundheitskosten pro Kopf der Bevölkerung zuletzt bei vergleichsweise hohen 9’005 CHF. Die Healthcare-Kosten entsprechen 12,1% des BIP. In Deutschland liegt die BIP-Quote mit 11,3% nur etwas tiefer.
Druck zur Kostensenkung
Nicht nur in Deutschland und der Schweiz drohen die Healthcare-Kosten aus dem Ruder zu laufen. Das Negativbeispiel sind die USA, wo über 18% des BIP auf Healthcare entfällt. Die Bemühungen, die Kostensteigerungen zu dämpfen, zu deckeln und die Entwicklung sogar umzukehren, sind zwar vielfältig, allerdings nur manchmal auch effektiv. Zu den eher einfachen Methoden zur Kostensenkung zählt der Apotheken-Versandhandel, der offensichtlich weniger direkte Kosten verursacht und somit einen Teil der erzielten Einsparungen in Form von Rabatten und Boni auch an die Kunden und Kostenträger weitergeben kann. Einiges an Hintergrund lässt sich aus der auf schweizeraktien.net publizierten dreiteiligen Serie vom Februar 2018 zu der Krankenversicherungskooperation von Amazon, JP Morgan und Berkshire Hathaway entnehmen, deren Absicht die Senkung der Gesundheitskosten für ihre Unternehmen und Angestellte ist.
Angstthema Apotheken-Versandhandel
Dem kostenreduzierenden Versandhandel stehen zwar auch Apothekenschliessungen gegenüber, doch scheinen viele Ängste übertrieben und teilweise dramatisiert, da selbst in digital fortschrittlichen Ländern wie Schweden und Schweiz die Penetrationsrate des E-Commerce bei Arzneimitteln mit 10% immer noch bescheiden ausfällt. Selbst die 25% in den USA erscheinen noch steigerungsfähig.
Zwei Phasen der Migration
Bei der realistischen Einschätzung der Verschiebung der Marktanteile vom stationären Handel zu digitalen Kanälen ist jedoch einzukalkulieren, dass es nach aller Erfahrung keine lineare Entwicklung ist, sondern ein Migrationsprozess, der in zwei Teile zerfällt, die von unterschiedlichen Wachstumstraten geprägt sind. Bereits 2016 war in einem Artikel auf schweizeraktien.net am Beispiel der Fintechs auf das beobachtete zeitliche Muster in der Migrationsbewegung hingewiesen worden. Bei Medien, Musik, Reisen, also den frühen Beispielen des E-Commerce, zeigte sich, dass in den ersten drei Jahren die Akzeptanz nur zögerlich eintrat, doch ab Jahr vier eine beschleunigte Adoption einsetzte. Ergebnis der seinerzeit von Citibank durchgeführten Studie war, dass durchschnittlich 44% des Marktvolumens nach 10 Jahren auf E-Commerce entfällt. Die Bandbreite unter den verschiedenen Branchen war gering.
Zweistellige Penetrationsrate in Europa auf mittlere Sicht
Selbst wenn man der strengen Regulierung im Arzneimittelbereich und weiteren Besonderheiten wie die Bindung vieler Patienten an ihren Apotheker Rechnung trägt und eine doppelt so lange Migrationsbewegung unterstellt, so gibt es doch wenig, was das mittel- bis langfristige Resultat – nämlich eine E-Commerce Penetrationsrate im deutlich zweistelligen Prozentbereich – zu verändern vermag.
Treiber der Entwicklung
Es kann schneller gehen, z.B. wenn das elektronische Rezept, das in der Schweiz seit 2001 im Einsatz ist, nun auch in Deutschland eingeführt wird und sich danach konsequenterweise in der ganzen EU etabliert. Auch Kooperationen mit Versicherungen und Einzelhändlern wie von Zur Rose mit KPT und Migros betrieben, können das Wachstum deutlich beschleunigen. Zudem ist durch die rege Akquisitionstätigkeit auch ein Konsolidierungsprozess in der fragmentierten Industrie in Gang gekommen, der aller Erfahrung nach mit der Zeit eine Eigendynamik im Kampf um Marktanteile entfaltet.
Demografie
Auch der demografische Faktor spielt dem Pharmamarkt und insbesondere dem Apotheken-Versandhandel in die Hände. Lag der Anteil der 65+ Bevölkerung in der EU 2015 noch bei 18,9%, so steigt er bis 2040 auf 27%. Noch stärker ist der Anstieg bei der 80+ Bevölkerung, der von 5,3% auf 9% ansteigt. Mit zunehmendem Alter nimmt auch der Anteil der chronischen Krankheiten zu. In Deutschland brauchen 25% der Patienten regelmässig drei oder mehr verschiedene Medikationen. In der Schweiz entfallen 80% der Nachfrage auf 20% der Patienten. Auf akute Medikationen entfallen nur überraschend geringe 20%.
Consumer Empowerment
Dazu kommt noch der Trend der Konsumenten und Patienten, selbst zu wählen und zu entscheiden sowie auch einen guten Preis zu erzielen. Das geht digital sehr viel besser als stationär. Bei vielen Konsumenten wandelt sich auch das Bewusstsein mit Bezug auf gesunde Ernährung, Naturkosmetik und Nahrungsergänzungsmittel. Umfassende Information und gute Preise sind bei den Online-Anbietern zu finden.
Digitalisierung als Trend
In den Gesundheitssystemen werden immer stärker ganzheitliche Konzepte eingesetzt, wie beispielsweise Telemedizin. Dabei stehen den Patienten kompetente und auch fachlich spezialisierte Ansprechpartner für allgemeine wie spezifische Fragen zur Verfügung. Ein Teil der Beratungs- und Betreuungsfunktion von Ärzten und Apothekern wandert so in den digitalen Raum ab. Die zunehmende Akzeptanz solcher Beratungsangebote senkt die Kosten für die Versicherungen und die Patienten. Durch den datengestützten ganzheitlichen Ansatz fällt es leichter, Krankheiten früh zu erkennen und behandeln. Zur Rose ist ein Pionier beim Einsatz von Big Data und digitalen Kommunikationsstrategien.
Verbot in Deutschland vom Tisch
Ein wichtiger eher psychologischer Faktor ist, dass in Deutschland nun das von der Grossen Koalition ins Spiel gebrachte Apotheken-Versandhandelsverbot, das ja nie in Einklang mit der EU-weiten Liberalisierung stand, nun seit Dezember nicht mehr als Damoklesschwert über der Tochter DocMorris schwebt.
Marktanteile in Deutschland
Unter Einbeziehung der Akquisitionen entfällt nun im E-Commerce in Deutschland ein Marktanteil von 31% auf Zur Rose, gefolgt von Shop-Apotheke mit 16%. Es folgt med-per-klick mit einem noch nennenswerten Marktanteil von 5%, der Rest ist breit gestreut. Unter den Playern verbergen sich aber auch Drogerieketten, Supermarktketten sowie Versandhändler und nicht zuletzt auch Amazon. Letztere sind überwiegend auf Kosmetik- und Beautyprodukte spezialisiert, könnten aber jederzeit auch in die Kernmärkte von Zur Rose eindringen. Dafür würde sprechen, dass aus dem Nischenmarkt mit regulatorischen Unsicherheiten inzwischen ein Wachstumsmarkt an der Schwelle zum Massenmarkt geworden ist.
Marktanteile in der Schweiz
In der Schweiz, wo es keinen OTC-Versandhandel gibt, liegen die Marktanteile von Zur Rose bei 23,6% im B2B-Bereich, also in der Ärzteversorgung, und bei 37% im B2C-Bereich. Ein Grund für die hohe Penetrationsrate im Endkundenbereich ist die bereits 2001 eingeführte Innovation des elektronischen Rezeptes. Die Zahlen zeigen, welches Potenzial das E-Rezept auf längere Sicht entfesseln kann.
Europäische Player
Unter den europäischen direkten Wettbewerbern sind die privat gehaltenen Pharmacy2U (UK), apotea.se (Schweden) und Newpharma (Belgien) zu nennen. In den beiden Hauptmärkten von Zur Rose spielen diese jedoch keine grosse Rolle. Beim Kampf um Marktanteile in Süd-, West- und Nordeuropa ist allerdings mit ihnen zu rechnen.
Günstige Bewertung
Gegenwärtig, nach einer starken Tagesperformance am 13. November von über 4% auf 100.40 CHF je Aktie, ist zur Rose an der Börse mit 840 Mio. CHF bewertet. Das entspricht 0.7 Mal dem von Berenberg Bank prognostizierten Jahresumsatz 2018 von 1.23 Mrd. CHF und ca. 0.5 Mal dem für 2019 prognostizierten Wert von 1.67 Mrd. CHF, allerdings auf einer Kursbasis von 90 CHF berechnet. Für 2020 rechnen die Analysten mit einem wieder positiven Ergebnis in Höhe von 1.33 CHF je Aktie.
Gegenüber anderen börsenkotierten E-Commerce-Unternehmen ist Zur Rose eher im unteren Feld der Bewertungsbandbreite angesiedelt. Bei Tripadvisor, übrigens mit 81,5% Jahresperformance eine der besten Aktien an der Nasdaq, liegt das KUV 2017 bei 5.5 Mal, bei Amazon, mit einer Jahresperformance von 42,3% trotz Korrektur, beträgt das KUV 2017 rund 4.5 Mal.
Auf und Ab der Aufmerksamkeit
Wenn auch nicht direkt vergleichbar, ist die Bewertungsdiskrepanz heute der vor zwei Jahren doch ähnlich. 2016 war die Aktie von Zur Rose noch ausserbörslich gehandelt worden und wurde von den Anlegern bei 800 Mio. Jahresumsatz mit lediglich 80 Mio. CHF oder einem KUV von 0.1 Mal bewertet. In einer dreiteiligen Serie war bereits im Mai 2016 auf schweizeraktien.net der Online-Apothekenmarkt untersucht worden, um eine fundierte Prognose für Zur Rose zu erstellen. Danach stieg die Aktie auf ein Vielfaches. nachdem die lange gehegten Börsenpläne sich verdichtet hatten und sich schliesslich im Juli 2017 auch realisierten. Der erste Handelstag war in der allgemeinen IPO-Euphorie dann auch der mit dem höchsten bisher erreichten Kurs von 160 CHF.
Psychologie und Liquidität
Vor diesem wechselhaften Hintergrund, und dies innerhalb von nur zwei Jahren, und angesichts des perfekten Timings und Pricings (aus Sicht der Altaktionäre) ist die schwache Performance seit dem IPO am besten mit den Faktoren Psychologie und Liquidität zu erklären. Die lange währende krasse Unterbewertung im OTC-Markt wurde von einer ebenso krassen überschwänglichen Entdeckung zum IPO abgelöst und resultierte darin, dass die neuen Investoren eben euphorische Preise bezahlten, nicht unbedingt absolut, aber relativ zu der Bewertungshistorie.
Doch das Börsenumfeld hat sich zwischen dem zweiten Halbjahr 2017 und heute augenscheinlich gewandelt. Waren vor einem Jahr noch die Liquiditätsschleusen der Notenbanken weit geöffnet, so hat gerade heute EZB-Chef Draghi ganz offiziell das Ende der Anleihekaufprogramme von zeitweise 30 Mrd. Euro p.m. bekannt gegeben. Auch wegen der verschlechterten geopolitischen Situation, den Handelsstreitigkeiten und der sozialen und politischen Probleme in Europa haben sich institutionelle Anleger mit Sitz in Nordamerika von europäischen Werten getrennt, und weiterhin reduzierten Anleger sukzessive in aller Welt ihre Aktienquote deutlich. Wo sich jedoch ein über Monate und Quartale währender Abwärtstrend etabliert, da verkaufen zur Verlustbeschränkung auch viele Zur-Rose-Aktionäre, die eigentlich eine positive Einschätzung haben oder schon lange engagiert sind.
Wechselnde Präferenzen der Investoren
Ob nun der Tiefstkurs von 88.60 CHF noch einmal getestet oder unterboten wird, hängt nicht zuletzt von der Börsenstimmung und der Risikoneigung der Marktteilnehmer ab. Ein wichtiger Faktor ist die Zinsentwicklung. Nicht weil Zur Rose hoch verschuldet wäre, sondern weil höhere Zinsen am Kapitalmarkt Anleihen vs. Aktien attraktiver machen und entsprechende Umschichtungen bewirken. In einem solchen Umfeld profitieren eher Aktien profitabler Unternehmen, die auch Dividenden ausschütten. Ein aggressiver Wachstumskurs, wie bei Zur Rose, wird eher als risikobehaftet angesehen, zumindest sofern eine nachhaltige Gewinnentwicklung nicht in Sicht ist.
Rückkehr in die Gewinnzone 2020
Doch bei Zur Rose ist die Rückkehr in die Gewinnzone geplant und absehbar. Die Synergien aus den Übernahmen entfalten sich bereits und werden auch schnell dazu beitragen, dass sich die EBITDA-Margen um 1% bis 2% erhöhen werden. Gegenwärtig ist kein grosser Angstgegner am europäischen Markt zu erkennen. Sollte sich einer in Position bringen, so müsste er erst einmal beweisen, dass er über Know-how und langen Atem verfügt. Regulatorische Hindernisse sind scheinbar nun dem Rückenwind von sinnvoller Liberalisierung gewichen. Weiterhin ist nicht zu unterschätzen, dass u.a. E-Rezept und internationale Expansion durch die spanische Akquisition auch eine überraschende Dynamik entfalten können, da der Druck, die Healthcare-Kosteninflation zu beschränken, mit abschwächender Konjunktur und schlechten Perspektiven für das Welthandelsklima mit Sicherheit stark zunehmen werden.
Der Investment Case bei Zur Rose Group bleibt langfristig intakt, allerdings werden Investoren die langfristig erzielbaren Kursgewinne mit starken Kurs- und damit Gefühlsschwankungen erst bezahlen müssen.
Vor einer Woche erläuterte Zur Rose CEO und Verwaltungsratsdelegierter Walter Oberhänsli im schweizeraktien.net Interview seine Sicht auf zahlreiche Fragestellungen.