„Erkenne den rechten Zeitpunkt.“: Pittakos von Mitylene, 650/51 v. Chr. – 570 v.Chr., Philosoph, Heerführer, Verfasser der ersten schriftlichen Gesetze in Griechenland
Die Konsumenten und Wähler in Europa sind zunehmend besorgt über die Folgen des Klimawandels. Das könnte auch bei den anstehenden Parlamentswahlen in der Schweiz für überraschende Ergebnisse und damit neue politische Realitäten sorgen. Mehr noch, eine aktuelle Umfrage unter 65‘000 Teilnehmern in 25 Ländern zeigt, dass der Klimawandel verstärkt das Verhalten der Konsumenten prägt: weniger Flüge, weniger Fleisch, weniger Plastikverpackungen. Höchste Zeit auch für Weltkonzerne wie die Nahrungsmittel-Multis, sich ein nachhaltiges und zeitgemässes Outfit zu verpassen.
Die freitäglichen Schülerstreiks haben an gesellschaftlichem Gewicht gewonnen und scheinbar auch frischen Wind in die Politik gebracht. Erst die Briten, jetzt auch die Niederlande und die Schweiz formulieren das Ziel einer CO2-neutralen Wirtschaft bis 2050, also in 30 Jahren. Anders als bisher fordert diese Zielsetzung konkrete Messwerte und Zielgrössen, die auch realistisch umgesetzt werden können. Wo, wie bei der Energiestrategie 2050, bislang Schritte auf die lange Bank geschoben wurden, muss nun ein beschleunigter Wandel herbeigeführt werden. Während die Schweiz auf gutem Weg ist und auch gute Chancen hat, die Klima-Ziele zu erreichen, wenn auch mit Anpassungen, so gilt dies nicht zwangsläufig für alle Länder. Umso wichtiger ist es, dass Vorreiter entschlossen die Probleme lösen und somit den Standard für die Nachfolger setzen.
Sorge der Bevölkerung nimmt zu
Die genannte Umfrage wurde von dem Data Analytics Unternehmen Kantar durchgeführt. Ein Drittel der Teilnehmer ist über den Klimawandel besorgt, rund die Hälfte hat ihr Verhalten zur Ressourcenschonung angepasst. In Europa fallen die Werte, die Besorgtheit anzeigen, höher aus als in Asien und Lateinamerika. Demnach dürfte beispielsweise der Fleischkonsum auf den britischen Inseln in den nächsten zwei Jahren um 4% fallen. 48% der Befragten verlangen von Markenproduzenten, dass sie Verpackungsmüll reduzieren oder eliminieren.
Nestlé geht bei zukünftigen Verpackungen eigene Wege
Darauf hat Nestlé, der weltgrösste Nahrungsmittelkonzern, nun eine eigene Antwort gefunden. Weil die von Partnern und Lieferanten angebotenen Verpackungslösungen unbefriedigend sind, hat der Multi sein eigenes Forschungszentrum für recyclierfähige und biologisch abbaubare Verpackungsmaterialien mit Namen „Packaging Science Institute“ ins Leben gerufen. Der Klimawandel ist laut CEO Mark Schneider „eine der grössten Bedrohungen für die Gesellschaft und auch eines der grössten Risiken für unsere Branche.“ Auch Nestlé will grüner werden und bis 2050 CO2-neutral sein!
Recycling als Lösung neu entdeckt?
Was die Verpackungsproblematik anbelangt, ist sehr schnell Bewegung aufgekommen, nachdem die EU 100% recyclingfähige oder wiederverwertbare Materialien bis 2030 fordert. Nestlé, Unilever, Coca-Cola, Carrefour, Walmart u.a. sind Unterzeichner einer Unternehmensinitiative, die verspricht, bis 2025 zu 100% recyclingfähige, kompostier- oder wiederverwendbare Verpackungslösungen einzusetzen. Das zeigt einmal mehr, dass den „toxischen“ Auswüchsen der post-industriellen Wirtschaft nur durch eine entschlossene Ordnungspolitik ein Riegel vorgeschoben werden kann.
Amazon formuliert ambitionierte Ziele gegen den Klimawandel
Eine echte Marke setzt Amazon mit einer Reihe von Entscheidungen, die CEO und Hauptaktionär Jeff Bezos vor der Weltklimawoche in New York bekannt gab. Als erstes US-Unternehmen verpflichtete sich Amazon, bis 2040 CO2-neutral zu operieren. Weiterhin wird bereits bis 2030 der Energieverbrauch zu 100% aus erneuerbaren Quellen stammen, heute sind es 40%. Eine wichtige Massnahme ist die Anschaffung von 100‘000 E-Vans für die Auslieferungen. Den Auftrag erhält ein Start-up, das von Bezos und Ford finanziert wird. Das könnte ein Muster für die Umstellung auf Elektromobilität sein, bei dem die traditionellen Hersteller wie Daimler, Toyota oder Fiat-Chrysler das Nachsehen haben. Dieser Schritt von Amazon dürfte weitreichende Effekte haben, da das Unternehmen stark mit dem Grossteil der amerikanischen Wirtschaft verzahnt ist. Amazon pflanzt auch Bäume in einem Volumen von 100 Mio. USD an!
Von Amazon zum Amazonas
Das wird den brennenden Regenwald am Amazonas und anderswo zwar nicht retten, aber immerhin ein unübersehbares Zeichen setzen. Nach aktuellen Erhebungen sind allein in Brasilien dieses Jahr 2‘400 Quadratmeilen Regenwald verloren gegangen, das entspricht der Grösse des US-Bundesstaates Delaware. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Entwicklungsland Äthiopien schon vor dem Ausbruch der Feuer in Südamerika 350 Millionen Bäume an einem Tag gepflanzt hat, um dem Klimawandel vorzubeugen. Das ist allerdings auch dringend nötig. Heute sind nur noch 4% der Landfläche mit Wald bedeckt, noch vor hundert Jahren waren es 35%.
Institutionelle Investoren üben Druck aus
In einer gemeinsamen Erklärung haben 230 Asset Manager mit 16.2 Billionen USD AuM ihre Portfoliogesellschaften dazu aufgerufen verstärkt auf die Lieferketten zu achten und darauf, dass keine Schäden durch Deforestation auftreten. “Deforestation and loss of biodiversity are not only environmental problems. There are significant negative economic effects associated with these issues and they represent a risk that we as investors cannot ignore,”: sagte Jan Erik Saugestad, CEO von Storebrand Asset Management, Norwegens grösster privater Vermögensverwaltung. Die Botschaft ist klar: Wer als Unternehmen in die Zerstörung der grünen Lunge involviert ist oder davon profitiert, muss mit dem Desinvestment der meisten institutionellen Investoren rechnen. Bezogen auf den Free-Float käme das einer Flutwelle gleich.
Unternehmenswelt sanktioniert Brasilien
Die Involvierung kann viele Seiten haben. Ein Beispiel liefert der börsennotierte französische Kleidungshersteller VF Group (u.a. the North Face), der schon im August als Reaktion auf die Feuer entschied, keine Lederwaren mehr aus Brasilien zu verwenden. Der norwegische Lachszüchter Mowi fand ebenfalls bereits im August deutliche Worte. “The treatment of the Amazon is unacceptable. Mowi will have to consider finding other sources for feed raw materials unless the situation improves”, sagte Chief Sustainability Officer Catarina Martins. Mowi produziert 430‘000 Tonnen Lachs pro Jahr, und Soja ist ein wesentlicher Bestandteil der Fischnahrung.
Papst als Feindbild für BolsoNero
Der Papst hat über 100 Bischöfe aus den neun Amazonasanrainerstaaten zu einer am 6. Oktober beginnenden dreiwöchigen Konklave nach Rom einberufen. Thema sind vordergründig nicht die Waldbrände am Amazonas, sondern die Zukunft der Kirche. Doch der ohnehin unter Beschuss stehende Präsident, inzwischen BolsoNero genannt, fürchtet die von ihm unterstellte „linke Agenda“ und bietet schon im Vorfeld alles auf, um zu verhindern, dass Brasilien und insbesondere er international vorgeführt werden. Die brasilianischen Bischöfe hatten bereits einen offenen Brief veröffentlicht, in dem die „brutale und irrationale Aggression gegen die Natur“ und die “skrupellose Zerstörung der Wälder durch Feuer von Kriminellen“ verurteilt werden. Es sei eine „wahre Apokalypse“, für die Bolsonaro verantwortlich sei. Das vorbereitende Dokument des Vatikans, „Instrumentum Laboris“ genannt, wird von den Rechtsextremen um BolsoNero natürlich diskreditiert. Im Hintergrund ist auch schon das Machtgetöse der Militärs zu hören. Brasilien war bis in die 1980er Jahre eine brutale Militärdiktatur, die allerdings vom Präsidenten verherrlicht wird. Franziskus wiederum ist Argentinier und war selbst Opfer der Militärdiktatur unter General Videla & Konsorten. Noch heute suchen die Mütter ihre damals verschwundenen Kinder. Franziskus ist auch Jesuit und Boxer, er dürfte sich von einem ehemaligen Hauptmann und Schergen der Militärdiktatur kaum einschüchtern lassen. Durch den „shoot-to-kill“-Befehl im Kampf gegen kriminelle Gangs ist zwar die Mordrate in Rio de Janeiro um 21% zurückgegangen, allerdings wurden über 1‘700 Menschen seit Jahresbeginn erschossen, darunter zuletzt die unbeteiligte achtjährige Agatha, das fünfte tote Kind.
CBS-Umfrage zum Klimawandel mit überraschenden Ergebnissen
Auch in den USA dreht beim Klima die öffentliche Meinung. Zwei Drittel der Teilnehmer der CBS-Umfrage glauben, dass der Klimawandel eine Krise oder ein ernsthaftes Problem darstellt. Mehr als die Hälfte will, dass die Krise ohne Verzögerungen angegangen wird. Nur 18% sehen keine Notwendigkeit, etwas zu unternehmen. Wie zu erwarten, sind jüngere Teilnehmer eher besorgt als ältere. Was jedoch die parteispezifischen Sichtweisen betrifft, so ist das Ergebnis doch unerwartet. Nur 20% der Republikaner sehen menschliche Aktivitäten als Hauptgrund des Klimawandels, bei den Demokraten sind es fast 70%. Insgesamt liegt der Wert mit 44% erstaunlich niedrig. Hier schlägt sich offensichtlich nieder, dass jahrzehntelang von der Öl-Industrie Desinformation über die Ursachen gestreut wurde. Jüngere Teilnehmer glauben jedoch eher den wissenschaftlichen Argumenten. Daraus resultiert auch, dass die Republikaner in Zukunft Schwierigkeiten haben werden, ausreichend Wähler zu finden! Zeitgleich mit den Ergebnissen der Umfrage gab CBS auch bekannt, mit über 250 Publikationen die Initiative „Covering Climate Now“ gestartet zu haben. Ziel ist die ausführliche Berichterstattung über alle Aspekte des Klimawandels.
Inevitable Policy Response
2’600 Investoren mit 86 Billionen USD AuM warnen am 23. September vor „business-as-usual“-Prognosen. Diese würden die Auswirkungen der Massnahmen zum Klimawandel über die nächste Dekade unterschätzen. Die Studie mit Namen „Inevitable Policy Response“ sagt eine „abrupte und disruptive“ Änderung der Politik bis 2025 vorher. Und das sei der „Tipping Point“! Konkret wird prognostiziert, dass Verbrennungsmotoren sehr viel schneller verschwinden als bisher angenommen, dass Kohle als Energieträger bis 2040 praktisch verschwunden sein wird, dass Solar- und Windenergie 2030 die Hälfte des Weltenergieverbrauchs bestreiten werden und dass der Oil-Peak 2026-2028 auftreten wird, nicht wie von der IEA prognostiziert 2040!
Wissenschaft und Propaganda
Es kommt zwar spät, aber dennoch ist es den grossen institutionellen Investoren hoch anzurechnen, dass sie dem tabulosen „laissez-faire“ eines falsch verstandenen wirtschaftlichen Liberalismus nun einen klaren Riegel vorschieben. Diese Botschaft sollte auch bei den Regierungen aller Couleur verstanden werden, ausser natürlich den Leugnern der Klimawissenschaft wie Trump und Bolsonaro. Das Problem aus globaler Perspektive ist, dass die USA und Brasilien zwei von nur fünf Ländern sind, auf die mehr als drei Viertel der weltweiten Grünflächen entfallen. Da durch die Waldbände in ganz Südamerika, in der DRC und Angola, in Indonesien und Sibirien der Tipping Point bereits überschritten ist, sind dringliche Reforestations-Bestrebungen erforderlich. Allerdings zeigen Beispiele, dass das gar nicht so einfach ist und Jahrzehnte erfordert, um nur die Hälfte des Kahlschlags wiederherzustellen. Ausserdem stellt sich die Frage, wie realistisch die 1,5-Grad- oder 2-Grad-Betrachtung eigentlich ist. Wenn schon bei einer Erwärmung um 1 Grad, wie in den letzten 100 Jahren, der Planet brennt und verwüstet, was wird dann bei 2 Grad passieren? Bis Ende des Jahrhunderts sagen Wissenschaftler eine tatsächliche Erhöhung der Durchschnittstemperaturen um 3-6 Grad Celsius voraus.
Politiker stehen vor schweren Herausforderungen, denen Technokraten und Bürokraten kaum gewachsen scheinen, denn, wie schon Pittakos sagt: „Schwer ist es, tüchtig zu sein.“