Macro Perspective: Was nun?

Ein Drittel Kursverlust in drei Wochen – war's das schon?

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„Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.“ Albert Camus, 1913-1960, Literat und Philosoph

„Thunderstruck“ – ein Wort, das treffend beschreibt, was selbst erfahrene professionelle Marktteilnehmer in den letzten Wochen erlebten. Ja, „Die Wahrheit macht oft den Eindruck des Unmöglichen“, wie unser Zitatgeber Dostojewski vor vier Wochen in der Macro Perspective sagte. Und die Welt hat sich auch ausserhalb von China und Südkorea in den letzten Wochen frappierend gewandelt. Wer hätte sich die aktuellen Realitäten wie Ausgangssperren, Engpässe bei Kliniken, Reise- und Versammlungsverbote o.ä. vorstellen können?

Die wirtschaftlichen Auswirkungen übersteigen bei weitem, was noch vor kurzem vorstellbar war. Kurzarbeit, Betriebsschliessungen, drohende Insolvenzen. Besonders Airlines atmen bereits jetzt dünne Luft. Ein grosser Teil der Branche ist schon technisch k.o. Nur Staatshilfen oder Verstaatlichungen werden eine globale Insolvenzwelle bis spätestens Mai vermeiden. Auch im Tourismus brauen sich düstere Wolken zusammen. Betroffen sind aber nahezu alle Branchen, wobei es auch Gewinner gibt.

Digitale Gewinner

Offensichtlich sind digitale Angebote, ob E-Commerce, E-Learning, E-Entertainment, E-Fitness, etc. als Nutzniesser zu erkennen. Die Amazon-Aktie ist zwar zunächst auch abgerutscht, hat jedoch zwischenzeitlich die Verluste fast wieder wettgemacht und liegt nur unwesentlich unter den Höchstständen.

Kursverlauf der Amazon-Aktie in USD über die letzten sechs Monate. Quelle: google.com

Es gibt aber auch spekulative Varianten. Der Börsendebütant aus 2018, Blue Aprin, hatte seinen Aktionären nur Verluste gebracht. Von 140 USD sackte die Aktie bis Anfang März auf knapp über 2 USD ab. Dann jedoch schoss die Aktie innerhalb von wenigen Tagen auf über 16 USD. Das Unternehmen ist auf „home cooking“ spezialisiert und versendet Kochingredienzen und -utensilien, Rezepte, Wein und Gerichte zum selber kochen als „Kit“. Im letzten Geschäftsjahr lag der Umsatz bei 455 Mio. USD, der Verlust belief sich auf 61 Mio. USD. Das könnte sich nun ändern angesichts der verschärften Massnahmen gegen die Pandemie in den USA.

Ermutigende Plateaubildung in Ost-Asien

Der Stand der Dinge ist global betrachtet gemischt. Positiv ist die Entwicklung in China zu bewerten, wo neue Infektionen seit Tagen schon nur noch bei Heimkehrern aus dem Ausland auftreten. Die strikten Quarantänemassnahmen haben offensichtlich die Ausbreitung effektiv eingeschränkt. Ähnlich ist es in Südkorea, wo in erster Linie von Anfang an Tests eingesetzt wurden, um dann sinnvolle Massnahmen einzuleiten. So zeigt eine spezielle Coronavirus-App, ob sich Infizierte im Radius von 100 Metern aufhalten. Das geht natürlich nur, wo massiv Tests eingesetzt werden und zunächst einmal auch verfügbar sind. In Japan wird wenig getestet, weil kaum Tests verfügbar sind. Allerdings sind auch die Zahlen der Infizierten und Toten weit unterdurchschnittlich. Experten führen dies auf breite Verfügbarkeit und den gewohnheitsmässigen Gebrauch von Desinfektionsmitteln zurück, z.B. in Taxis, Einkaufsläden und Behörden.

Infektionswelle in den USA

Der grosse Testfall dürften die USA werden. Zunächst bezeichnete Trump die drohende Pandemie, wie fast alles, das nicht ins Konzept passt, als „Schwindel“. Zu diesem Zeitpunkt erreichte die Wall Street noch neue Rekordmarken. Die anfängliche Sorglosigkeit ist inzwischen blankem Entsetzen gewichen. Die den USA angebotenen Test-Kits waren abgelehnt worden – und fehlten dann, denn die USA haben keine eigenen Tests. Somit konnten über Wochen hinweg reisende Virusträger ins Land gelangen und die Infektion verbreiten. So erklärt sich auch die rapide steigende Anzahl von Infizierten in den USA, die nach China und Italien nun das Land mit den höchsten Zahlen sind. Auch wenn Trump sich nun als Führer in der Krise inszeniert, so ist doch klar, dass seine anfängliche Ignoranz ein Hauptgrund für das Desaster ist. Eine Expertin von der Brookings Institution sagte zu seinem Krisenmanagement daher unverblümt: „He’s an idiot“ . Vor zwei Jahren hatte Trump zudem das National Security Council aufgelöst, dessen Aufgabe die Vorbereitung und Koordination von Krisenmanagement bei Pandemien war.

Krisen-Massnahmen

Inzwischen gleichen die Bilder aus New York und San Francisco denen von Mailand oder chinesischen Städten. Nachdem dann noch der Ölpreis als Folge einer Eskalation zwischen Russland und Saudi-Arabien auf mittlerweile unter 20 USD abgestürzt ist, korrigierte auch Trump seinen Kurs. Weltweit sind weitere Verschärfungen wie Ausgangssperren, Schliessung von nicht unbedingt erforderlichen Geschäften, Versammlungsverbote u.ä. zu erwarten. Dabei kommt es bereits zu Ungleichheiten. Während in Frankreich Buchläden bereits geschlossen sind, dürfen Supermärkte und Online-Händler weiterhin Bücher verkaufen. Um Pleiten bei Kleinunternehmen und Selbständigen zu vermeiden, werden daher in Europa milliardenschwere Unterstützungsfonds ins Leben gerufen. Bei grossen und börsenkotierten Unternehmen stehen dreistellige Milliardenbeträge für Beteiligungen und andere Notmassnahmen zur Verfügung. Es ist eine Ausnahmesituation! Nicht von ungefähr lassen sich diverse Politiker mit Aussagen wie „Es ist eine Kriegssituation“ vernehmen. Krisengeschüttelte Unternehmen der Automobilindustrie wollen und sollen nun Produkte für die Gesundheitsindustrie herstellen und so Mängel bei Schutzkleidung, medizinischen Bedarfsartikeln usw. beheben helfen.

Gefährliche Unbekümmertheit

Obwohl die allgemeinen Auswirkungen offensichtlich sind, gibt es immer noch zahlreiche Mitbürger, die unbesonnen sich selbst und andere gefährden, indem sie mit dem gewohnten Lebensstil fortfahren. Sogenannte Corona-Parties sind in und werden beispielsweise in Bayern zunehmend von der Polizei aufgelöst. In Sydney sind die Strände bei 30 Grad Celsius Aussentemperatur trotz rapide steigenden Infizierten-Zahlen überfüllt. Jetzt soll gelten, dass nicht mehr als 500 Menschen am Strand sein dürfen. Andernorts gelten bereits Ansammlungen von sechs Menschen als zu viel. Drastische Strafen bis zu 25’000 Euro sollen der Unbekümmertheit ein Ende setzen.

Wachstumsprognosen werden reduziert

Waren die Prognosen für die Wirtschaft noch bis vor kurzem vollmundig, setzen dann kleine Änderungen ein, gefolgt von nun realistischen Werten. In den letzten Tagen über- bzw. unterboten sich JP Morgan, Deutsche Bank und weitere Banken mit Schätzungen bis hin zu einer Kontraktion des US-Wachstums im bevorstehenden zweiten Quartal von 14%! Das wäre gravierender als zu Beginn der Finanzkrise 2008/2009, als die stärkste Quartalskontraktion bei 8,4% gelegen hatte.

Der lange Weg zum Impfstoff

Allerdings gehen die meisten solchen Schätzungen von einem Abklingen der Pandemie zur Jahresmitte aus und einer darauffolgenden Belebung. Das könnte sich jedoch als Wunschdenken erweisen, denn Stand heute ist mit einem Impfstoff laut FDA allerfrühestens in 12 Monaten zu rechnen. Normalerweise nimmt die Zulassung eines Impfstoffs rund 10 Jahre voller klinischer Studien in Anspruch. Aber selbst bei einem beschleunigten Verfahren, sind 12-18 Monate eine optimistische Schätzung. Da das Virus auch mutieren kann, sind selbst später verfügbare Impfstoffe nicht unbedingt das Ende der Pandemie. Es muss auch an die Sicherheit der Milliarden Menschen gedacht werden, die geimpft werden sollen, von denen allerdings der Grossteil wohl nie infiziert werden wird.

Ausnahmezustand auf Dauer?

Realistische Einschätzungen der Dauer des Ausnahmezustandes liegen daher eher im Bereich von 1-2 Jahren. Es ist mit einem wiederholten Aufflackern von Infektionswellen zu rechnen, da das Virus unbemerkt in den Wirten getragen und verbreitet wird, ohne dass diese zwangsläufig selbst Krankheitssymptome zeigen müssen. Es kommt auch auf die Qualität der jeweiligen Gesundheitssysteme an. Das Beispiel der Lombardei zeigt, dass selbst beste Voraussetzungen den Anforderungen kaum gewachsen sind. Der Zustand in den USA, wo viele überhaupt keine Krankenversicherung haben und weder Tests noch Intensivbetten in auch nur annähernder Anzahl zur Verfügung stehen, ist sehr viel kritischer als in Europa. Es könnte also durchaus sein, dass die „worst-case-Szenarien“ eintreten. In den USA stehen nach gegenwärtigen Schätzungen allein 23 Mio. Arbeitsplätze auf dem Spiel, in Europa dürften es ähnliche Grössenordnungen sein.

Verkaufsdruck an den Börsen

Für Investoren sieht die Welt nach den heftigen Verlusten der letzten Wochen nochmals anders aus. Zeichen von Stress sind nun überall sichtbar. Nicht nur im Universum der Aktien, sondern quer durch alle Asset-Klassen. Dabei führen die Kursverluste auch dazu, dass ETFs und Fonds ihre Anleger auszahlen müssen und weitere Wertpapiere verkaufen. Selbst manche Bond-Fonds verloren durch Kursverluste bis zu 50% ihres Volumens.

Quelle: reuters.com

Margin Call

Was viele Marktteilnehmer nicht verstehen, ist die Tatsache, dass selbst sichere Häfen wie Anleihen oder Gold Verluste verzeichnen, wenn auch in geringerem Ausmass.

Preis einer Feinunze Gold in USD über das letzte Jahr. Quelle: finanzen.ch

Der Grund ist, dass es für viele Anleger ganz normal ist, ihre Gewinnchancen durch Fremdkapital zu äusserst geringen Zinsen hochzuhebeln. Wenn aber die Kurse und Preise purzeln, sind schnell die Beleihungsgrenzen überschritten – es kommt zum „Margin Call“! Dann müssen die beliehenen Vermögenswerte veräussert werden oder solche, bei denen die Verluste noch am geringsten sind, um die Verbindlichkeiten zurückzuführen.

Kursverlauf der Dufry-Aktie in CHF über die letzten sechs Monate. Quelle: google.com

Solche Liquidations-Prozesse führen dann auch zu Verwerfungen an den Devisenmärkten – vor allem beim USD. Die Margin Calls treffen weniger kleine Spekulanten als Grossanleger – wie im Fall Dufry. Die Aktie liegt inzwischen um 80% unter dem Kurs vom Jahresanfang!

Was nun?

Wie kann es nun an der Börse weitergehen? Nach Verlusten von über 30% bei den Leitindizes stellt sich die Frage, ob es das schon war oder weitere Verluste, wie von Permabären prognostiziert, zu erwarten sind. Einfach mit irgendwelchen Durchschnittswerten vergangener Baisse-Episoden zu jonglieren, mag eine Beschäftigung für unterbeschäftigte Analysten sein, doch weiterhelfen wird es angesichts der spezifischen Anatomie der Pandemie nicht. Komplizierend kommt hinzu, dass es angesichts des Ölpreiszerfalls eigentlich schon eine Doppelkrise ist. Vereinzelt taucht auch das „d-word“ in den Medien auf, was auf das Trauma nach 1929 verweist.

Profil der Krise

Doch im Gegensatz zu der „Grossen Depression“ Anfang der 1930er Jahre und auch der „Subprime-Krise“ von 2008/2009 handelt es sich dieses Mal nicht um eine von den Börsen ausgehende Verwerfung, welche die Realwirtschaft infiziert. Vielmehr ist eine Virus-Pandemie ein externer Schock, der zunächst die Wirtschaft lahmlegt und an den Börsen zu Verwerfungen führt, weil die Schätzungen für Wirtschaftswachstum und Unternehmensgewinne angepasst werden. Alles läuft auf die Frage hinaus, wie lange der teilweise oder nahezu totale „lock-down“ in den grossen Volkswirtschaften fortdauern muss. Verschiedene Epidemiologen rechnen mit mehreren Wellen und einer langen Dauer der Ausnahmeregelungen. Doch das Beispiel China zeigt auch, dass bei rigorosen Quarantänebestimmungen recht schnell eine Unterbrechung der unheimlichen Ansteckungsdynamik bewirkt werden kann. Kann man die entsprechende Disziplin vielleicht in Europa auch erwarten, so ist die Prognose für die USA eher von Zweifeln erfüllt. Noch schlimmer könnte es allerdings in Brasilien kommen, wo Bolsonaro das Virus zunächst als Fantasieprodukt abtat. Mehr als ein Dutzend seiner Begleiter bei einer Reise in die USA sind nun infiziert. Wie bei Trump herrschen grosse Zweifel, ob die Führungsqualitäten in der gegebenen Situation nicht eher zu einer höheren Gefährdung der Bevölkerung führen.

Analogie zur Spanischen Grippe

Eine gute Indikation, jedenfalls die beste, die die Börsenhistorie hergibt, ist der Ausbruch der sogenannten „Spanischen Grippe“ 1917/1918. Nach heutigen Erkenntnissen sind an der Virus-Pandemie 50-100 Mio. Menschen gestorben, mehr als der erste Weltkrieg Opfer forderte. Es bleibt zu hoffen, dass die Auswirkungen der aktuellen Pandemie weit darunterbleiben werden. Doch der Vergleich mit der damaligen Börsenentwicklung zeigt, dass das Schlimmste bei über 30% Verlusten schon vorbei sein könnte. Dem ersten Auftreten Mitte 1917 folgte eine sechsmonatige Baisse mit rund 33% Indexverlust, obwohl die meisten Infektions- und Todesfälle nicht vor Oktober 1918 eintrafen.

Quelle: marketwatch.com

Einstweilen ist der nachfolgende Satz von Camus gut als Motto geeignet: „Die Freiheit besteht in erster Linie nicht aus Privilegien, sondern aus Pflichten.“      

2 Kommentare

  1. Um in der Lombardei von besten Voraussetzungen im Gesundheitssystem zu sprechen, da hat man extrem wenig Ahnung von der Realität da. Bereits die grosse Grippewelle vor 3 Jahren hat das System fast kollabieren lassen. Zudem hat die USA in Prozenten zur Bevölkerung am meisten Intensivbetten (Rang 1 weltweit). Schwach recherchiert!

    • Geschätzter Leser,

      vielen Dank für den kritischen Kommentar. Ihre subjektive Realität ist bestimmt von persönlichen Erfahrungen gespeist und damit für Sie richtig. Tatsächlich ist jedoch jedes nationale Gesundheitssystem bei weitem überfordert. Dass es die Lombardei so heftig trifft, ist zweifellos auf das hohe Alter der Bevölkerung zurückzuführen. Das Durchschnittsalter der dort Verstorbenen beträgt nach einer Rechnung aus den letzten Tagen 79,5 Jahre. Dass es jedoch in Norditalien so viele Menschen in hohem Alter gibt, ist teilweise auf die gesunde mediterrane Kost zurückzuführen, aber bestimmt auch auf die hohe Qualität des Gesundheitssystems. Das schreibt übrigens auch die NZZ: Die Spitäler der Lombardei gehören zu den besten im Land. (https://www.nzz.ch/international/in-sueditalien-droht-ein-super-gau-ld.1546746)

      Die Betonung liegt aber auf System! In den USA ist das Gesundheitssystem nahezu vollständig privat. Für private Unternehmen gelten aber keine Reservepflichten. Deshalb gibt es nur Tests für Celebrities wie Tom Hanks und Partner, nicht aber für Dick oder Harry. Das ist bereits ein Politikum in den USA, die ja schliesslich auf Gleichheit aufgebaut sind, zumindest historisch. Deshalb gibt es auch keine Beatmungsgeräte, wie sie jetzt verstärkt für die Infizierten benötigt werden. Das gilt auch für die Intensive Care Units (ICU). In den USA stehen 46 500 insgesamt zur Verfügung. Viele sind spezialisiert auf Vergiftungen, Brandopfer und weitere Sonderfälle und nicht unbedingt schnell auf die nun spezifischen Anforderungen umzurüsten. Und sind von Alaska bis Hawaii weit geclustert.

      Laut einer Publikation des John Hopkins Center for Health Security vom 27. Februar 2020 benötigen die USA im „moderate scenario“ 200 000 ICUs, aber im „very severe scenario“ wie 1918 (spanish flu) eben 2,9 Mio. ICUs. http://www.centerforhealthsecurity.org/cbn/2020/cbnreport-02272020.html

      Da es in den USA bereits eine Diskussion darüber gibt, schnell wieder die Restriktionen zu lockern, um der Wirtschaft nicht zu schaden, ist eher mit einer Ausbreitung zu rechnen als in Ländern, die eher rational mit der Herausforderung umgehen.

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