„Es gibt Schiffe, die zu vielen Häfen fahren, aber zu keinem, bei dem das Leben nicht schmerzhaft ist.“ Fernando Pessoa, 1888-1935, Literat
500 Mrd. Euro hier, 1 Bio. Euro da, und nochmal 2 Bio. USD dort – kein Betrag scheint für die politischen Entscheidungsträger zu hoch, um die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zu begrenzen – und, natürlich, wiedergewählt zu werden. Dabei zeigt die Corona-Krise doch nur, dass der viel zitierte Strukturwandel steckengeblieben ist, die Autarkie und Vitalität der Wirtschaftsblöcke unter der blinden Globalisierung gelitten haben und die Resilienz der Unternehmen dank billigem Fremdkapital und dadurch verminderter Wettbewerbsintensität verloren gegangen ist.
Jetzt, wo es nicht nur für viele Unternehmen und Selbständige, sondern auch für Angestellte, Kommunen und ganze Staaten finanziell ums nackte Überleben geht, ist plötzlich der Ruf nach dem Staat oder supranationale Institutionen und deren Unterstützung laut geworden. Die Summen sind astronomisch – die Staatsverschuldung steigt exponentiell. Die Briten haben sich im April 62 Mrd. GBP geliehen, 51 Mrd. GBP mehr als im April letztes Jahr und die höchste monatliche Summe, seit die Aufzeichnungen 1993 aufgenommen wurden.
Eskalierende Staatsverschuldung
Der amerikanische Präsident kündigte an, im zweiten Quartal insgesamt 3 Billionen USD aufzunehmen. Das ist das über Fünffache der höchsten Kreditaufnahme während eines Quartals in der Finanzkrise 2008/2009! Die Nettoneuverschuldung hatte 2019 bei 1.28 Billionen USD gelegen, aktuell steht die amerikanische Staatsverschuldung bei 25 Billionen USD. Die Geldmengen schiessen in die Höhe, in den USA so stark wie in den letzten 40 Jahren nicht. Das Geldmengenaggregat M1 nimmt auf annualisierter Basis um über 30% zu, M2 um über 20%.
Inflationsgefahr?
Was passiert, wenn mehr Geld auf weniger Güter stösst? Richtig, die Preise steigen. Ob Erdbeeren, Tomaten, Kartoffeln, Milchprodukte oder ein Haarschnitt – alles wird teurer. Das ist natürlich der Eindruck der Konsumenten, der von den Erfahrungen während des Lockdown geprägt ist. Und er stimmt auch für Güter und Dienstleistungen, die unter den gegebenen Bedingungen weniger produziert, importiert oder erbracht werden können. Ernte-Arbeiter kommen nicht ins Land, die Industrieproduktion fällt, in der Gastronomie oder beim Friseur kostet die Einhaltung der Hygienevorschriften und die dadurch reduzierte Anzahl an Kunden. Und wer im Bereich Transport oder als Krankenschwester arbeitet, fordert durchaus zu Recht in Anbetracht der erhöhten Risiken des Berufes eine höhere Bezahlung.
Deflationäre Impulse
Doch der Eindruck trügt. Viele Produkte und Dienstleistungen werden gar nicht mehr gefragt oder ihre Märkte sind zum Erliegen gekommen. Dazu zählen Kreuzschifffahrten und der Flugbetrieb. Dennoch haben die schwer angeschlagenen Branchenvertreter reichlich frisches Kapital bekommen, allein die Kreuzschifffahrtsgesellschaften über 8 Mrd. USD und die US-Fluggesellschaften nahe 15 Mrd. USD. An Lufthansa und Air France-KLM beteiligen sich die Staaten Deutschland und Frankreich mit 9 Mrd. Euro respektive 7 Mrd. Euro. Obwohl die Flugzeuge weitgehend am Boden bleiben und eine Rückkehr zum „normalen“ Flugbetrieb auf absehbare Zeit unrealistisch aussieht. Bezeichnenderweise hat der mittlerweile allzu oft zitierte Star-Investor Warren Buffett die erst in den letzten Jahren aufgebauten beträchtlichen Beteiligungen an den US-Fluglinien mit hohen Verlusten und der Begründung verkauft, dass sie auf Jahre hin nur Kapital verbrauchen werden.
Liquiditätsflut
Nichtsdestotrotz sieht es so aus, dass die Börse vor allem auf die Fed und deren bewährte Liquiditätsmassnahmen baut. Die Kurse von United Airlines & Co. sind nach dem Absturz wieder stark gestiegen. Auch der Flugzeugbauer Boeing ist von der Krise schwer betroffen und gilt sogar als Pleitekandidat, wenn es nicht in absehbarer Zeit zu einer Rückkehr zur Prä-Covid-19-Realität kommen wird.
Problemfelder vor der Pandemie
Es ist ein Dilemma, denn die überschäumende Liquiditätsschwemme in noch nie gesehenem Ausmass fliesst überwiegend in Unternehmen, deren Perspektiven schon vor dem Ausbruch der Pandemie von einer strukturellen Krise überschattet waren. Das Corona-Virus war vielfach nur der Auslöser der Krise. Viele Städte wie Barcelona, Venedig oder Tallin hatten schon 2019 die Anzahl der Kreuzfahrtschiffe beschränkt, weil der „Over-Tourism“ Schäden anrichtet und zudem die Atemluft durch den schweren Schiffsdiesel verpestet wird. Ähnliche Bedenken gibt es auch für den Bergtourismus oder die so beliebten Städtereisen.
Öl-Futures mit negativem Preis
In Europa fliesst viel Geld in die Automobil-Industrie, obwohl die Verkäufe dramatisch eingebrochen sind und sich trotz Produktionskürzungen Lagerhalden unverkaufter Automobile ansammeln. In den USA fliesst Kapital in die Ölindustrie, obwohl die Lager überfüllt sind und deshalb der Preis für ein Fass Rohöl an den Futures-Märkten sogar kurzzeitig und erstmals in der Geschichte in den negativen Bereich auf -37 USD gefallen ist.
Helikopter-Geld weckt Begehrlichkeiten
Wie zu erwarten war, wurde in den USA auch erstmals Helikopter-Geld verteilt. 1’200 USD pro Kopf im Erwerbstätigenalter wurden per Scheck verteilt. Einmalig! Nun werden die Forderungen nach regelmässigen „Stimulus-Checks“ laut. Die Rating-Agentur Moody’s erwartet für 2020 aktuell ein US-Budgetdefizit in Höhe von 14,8% des BIP. In Europa sieht es nicht anders aus, auch wenn der staatliche Geldsegen anders verteilt wird. Hier kommt allerdings erschwerend dazu, dass die südeuropäischen Länder besonders von den Folgen der Pandemie betroffen sind, was den alten Nord-Süd-Konflikt innerhalb der EU wiederbelebt. Weiterhin kommt der Brexit-Prozess als zusätzlich komplizierender Umstand hinzu. In Polen und Ungarn sind die rechtsstaatlichen Fundamente, die innerhalb der EU zwingend sind, ausser Kraft gesetzt, was inakzeptabel ist. Es mehren sich auch, mal wieder, die Stimmen, die das Ende der EU gekommen sehen.
3 Experten – 5 Meinungen
Wie passen die bestenfalls gedämpften Aussichten für eine erneute wirtschaftliche Expansion, die Pleiten und der Einbruch der Unternehmensgewinne nun mit der phänomenalen Erholung an den Börsen zusammen? Wer Rat bei Experten sucht, findet genau die These, die seine eigene bestätigt. Während viele Banken und sonstige Ratgeber schon neue Rekordmarken für die richtungsweisenden Aktien-Indizes prognostizieren, mahnen andere zu Zurückhaltung und wieder andere erwarten den Crash.
Digitale Marktführer treiben US-Börse
Möglich ist an der Börse natürlich alles, zumindest zeitweilig. Man könnte sagen, der Börsenaufschwung ist allein von Liquidität getrieben, obwohl zumindest ein Quantum Zuversicht auf Seiten der Aktienkäufer auch erforderlich ist. Es gibt aber auch differenziertere Betrachtungen. So entfallen rund 50% der Gewinne der S&P-500-Unternehmen allein auf die beiden Sektoren Healthcare und Technology. Den meisten Unternehmen dieser Industrien geht es von zeitweiligen Belastungen abgesehen wirklich gut – und viele sind sogar Profiteure der aktuellen Anti-Pandemie-Massnahmen. Der Strukturwandel von klassischen produzierenden Industrien hin zu digitalen Geschäftsmodellen ist an den US-Börsen bereits weit fortgeschritten – in Europa jedoch noch unterentwickelt. Während General Motors und Boeing unwichtiger werden, sind die höchstbewerteten Unternehmen wie Microsoft und Amazon nicht nur weitgehend krisenresistent, sondern sogar Nutzniesser. Der Börsenwert von Boeing beträgt nur noch 77 Mrd. USD, der von Amazon 1’220 Mrd. USD! Da in Europa die Indizes nach wie vor und abgesehen von einigen wenigen Unternehmen wie SAP von alten Industrien dominiert werden, ist auch die Erholung in der relativen Betrachtung mit Ausnahme des SMI weniger dynamisch als jenseits des Atlantiks ausgefallen.
Relative Entwicklung spricht für sich
Auffällig ist aber auch die differenzierte Entwicklung innerhalb Europas. Während sich die repräsentativen Indizes in Paris, Mailand und Madrid nur zu einem geringen Teil erholt haben, sieht es in Zürich und Frankfurt besser aus. Aber noch nicht so gut wie in New York, wo mehr als die Hälfte des vorherigen Einbruchs wieder ausgebügelt ist. Jetzt aber geht es beim S&P 500 darum, die 200-Tages-Linie nachhaltig nach oben zu durchstossen und so den Weg für neue Rekordmarken frei zu machen. Die Chancen sind allerdings als gering einzustufen, dass die Widerstände überwunden werden und die Kurse dann einfach in neue Höhen klettern. Der Grund ist die schlechte Gewinnentwicklung der Unternehmen.
Stimmungsschwankungen
Auch die Auswertung historischer Muster dämpft den Optimismus. Immer, wenn der Überschwang nach einer heftigen Korrektur zu weit trägt, folgen Rückschläge, wobei sich die den langfristigen Trend bestimmende 200-Tages-Linie als ultimativer Widerstand erweist. Kurzfristig kann die Börse einen erwarteten Aufschwung, der sich dann auch zu materialisieren beginnt, vorwegnehmen, doch wenn die Schlagzeilen von Pleiten wie aktuell Hertz geprägt sind, kann auch eine Reflektion der Prämissen bei den Investoren einen Sinneswandel herbeiführen.
Insolvenzantragspflicht ausser Kraft gesetzt
Was gar nicht so im Bewusstsein ist, sind die weitreichenden Änderungen der Insolvenzantragspflichten, vor allem in Europa. In Deutschland wurde beispielsweise im Eiltempo schon im März das Covid-19 Insolvenzaussetzungsgesetz verabschiedet, das bis 30. September reicht und durch Stützungsfonds und Notkredite komplementiert wird, um möglichst vielen Unternehmen das Überleben zu erleichtern. Dennoch erwarten die Insolvenzverwalter und Anwaltskanzleien, dass die Anzahl der Insolvenzfälle um rund 15% steigen wird. In Italien, Frankreich und den anderen Ländern greifen ähnliche Mechanismen. Jedes fünfte Unternehmen ist gefährdet. In den USA könnten die Insolvenzen um bis zu 39% steigen, so schätzt der Kreditversicherer Coface.
Enges Zeitfenster zur Anpassung
Das bedeutet, dass den angeschlagenen Unternehmen wenige Monate Zeit bleiben, um so reorganisiert zu werden, dass sie mit den neuen Realitäten leben und überleben können. Das wird vielen nicht gelingen. Schätzungen für Gastronomie, Einzelhandel, Hotellerie usw. gehen davon aus, dass eine hohe Anzahl der Betriebe nicht wiedereröffnen wird oder eine Chance hat, im Geschäft zu bleiben. Ebenfalls stark betroffen sind viele Zweige der Industrie, etwa im Umfeld der Automobilzulieferer.
Timeline
So richtig unter einen Hut lassen sich die divergierenden Tendenzen nicht bringen, doch eine Art „Timeline der wahrscheinlichen Abläufe“ lässt sich durchaus entwerfen. Kurzfristig mag der Optimismus an der Börse anhalten, auch weil der News-Flow von der Covid-19-Front allgemein positiv interpretiert wird. Zumindest in West-Europa und Fern-Ost. Der Blick auf die USA, Brasilien, Russland, Indien und weitere wichtige Länder gibt jedoch wenig Anlass zur Zuversicht.
Virus-Wellen
So kann die 200-Tages-Linie bei den trendbestimmenden US-Indizes durchaus genommen werden, basierend auf der allgemein verbreiteten Ideologie, dass nun das Schlimmste hinter uns liegt und die Kapitalinjektionen in die Wirtschaft bald zu einer Normalisierung führen werden. Spätestens mit dem Ende des Sommers auf der Nord-Halbkugel – also ein Quartal weiter – ist jedoch mit einer breiten Ernüchterung zu rechnen. Das Virus dürfte nach aller Wahrscheinlichkeit dann von den jetzt betroffenen Ländern und angesichts der Aufhebung der Lockdown-Massnahmen in Europa und den meisten Ländern dorthin zurückkehren. Bis dahin wird der ökonomische Fall-out unübersichtlich sein: Kollabierende Unternehmensgewinne, Entlassungen, umgekippte Unternehmen und strapazierte Staatsfinanzen werden dominieren.
Untote
Anstatt dem Zyklus seinen Lauf zu lassen – auch Pleiten gehören zum Wirtschaftsleben – ist die Gefahr allerdings hoch, dass weiterhin der Zombifizierung der Wirtschaft durch billige Kredite der Vorzug gegeben wird. Zombie-Unternehmen sind börsennotiert, und ihr EBIT liegt unter den Zinsaufwendungen. Damit werden nicht nur schwache Unternehmen am Leben gehalten, sondern auch der Wettbewerb verzerrt und die Ressourcen falsch allokiert.
Cash is King
Vielleicht werden bis zum Herbst die Börsen dennoch so reagiert haben, dass kluge Investoren wie Warren Buffett wieder Investments in unterbewertete Aktien machen können. Derzeit sitzt Buffett auf 137 Mrd. USD Liquidität. Das sind 32% der aktuellen Marktkapitalisierung von Berkshire Hathaway in Höhe von 426 Mrd. USD. Er sagt, er findet keine attraktiven Aktien!
Gold im Aufwärtstrend
Unabhängig vom Geschehen an den Aktienmärkten ist der Goldpreis unterdessen weiter auf 1’788 USD je Unze gestiegen. Auch aktuell bei 1’735 USD liegt die 1-Jahres-Performance bei 35%! In Zeiten exorbitanter Neuverschuldung tendiert der Goldpreis nahezu immer nachhaltig nach oben.
Investoren sind gut beraten, die weiteren Perspektiven der Börsen nach der kräftigen Erholung etwas bescheidener einzustufen als bisher. Der folgende Satz des Dichters Pessoa ist ein geeigneter Ausgangspunkt für die Abwägung von Chancen und Risiken: „Ich weiß nicht, was morgen kommt.“