„Lasst einige Leute zuerst reich werden.“ Deng Xiaoping, Politiker, 1904-1997
Es sollte das grösste IPO aller Zeiten werden – 37 Mrd. USD Emissionsvolumen bei einer Unternehmensbewertung von mindestens 225 Mrd. USD. Das Investoreninteresse war gross, die Zeichnungen lagen bei einem Vielfachen der zur Verfügung stehenden Aktien. Nur zwei Tage vor dem ersten Handelstag wurde jedoch der Börsengang gestoppt – von Xi Jinping, dem starken Mann Chinas.
Zu den direkten Auswirkungen der Entscheidung, den Ant Financial Börsengang zu stoppen, zählte eine Woche später eine tagelang andauernde Verkaufswelle von Tech- und Fintech-Aktien an den chinesischen Börsen. Ob Alibaba, Tencent, Xiaomi oder JD.com – die langjährigen Lieblinge der chinesischen Investoren fielen schnell um 15% bis 20%. Allein Alibaba verlor 100 Mrd. USD Market Cap, die nun bei nur noch etwas über 700 Mrd. USD liegt. Die verlorene Market Cap der chinesischen Top 5 Tech-Aktien summierte sich schon nach drei Tagen auf nahe 300 Mrd. USD.
Kurs-Korrektur
Und das ist kein Zufall, sondern die Folge eines kühlen Kalküls. Dabei wird der Schaden für die Reputation der Regulierungsbehörde wie des Finanzplatzes vom Politbüro der Kommunistischen Partei durchaus in Kauf genommen, denn die Ziele des „crack-down“ sind, so die offizielle Begründung, „die Förderung der nachhaltigen und gesunden Entwicklung der Online-Wirtschaft“ oder anders ausgedrückt: die Beschränkung der Dominanz der grossen Tech-Unternehmen.
Nach der Absage des IPOs von Ant Financial waren umgehend die Lenker der 27 wichtigsten Internet Unternehmen einbestellt worden, um die Regulierung der Online-Wirtschaft zu diskutieren. Als dies durchgesickert war, kam es zu den Panik-Verkäufen an der Börse.
Xi Jinping vs Jack Ma
Der Vorgang weist mehrere Bedeutungsebenen auf. Die naheliegendste betrifft den reichsten Chinesen, Jack Ma. Der frühere Lehrer hatte 1999 in seiner 1-Zimmer-Wohnung Alibaba gestartet und recht schnell zur chinesischen Antwort auf die US-Dominanz in der Online-Welt gemacht. Sein Vermögen wird mittlerweile auf 62 Mrd. USD geschätzt. Der Börsengang von Alibaba 2014 war seinerzeit das grösste IPO aller Zeiten, der erst Jahre später von Aramco knapp eingestellt wurde. Mit Ant Financial, an der Alibaba zu 33% beteiligt ist, wäre Jack Ma zum zweiten Mal das grösste IPO aller Zeiten gelungen.
Doch es sollte nicht sein. Am 24. Oktober hatte Jack Ma eine flammende Rede gehalten, in der die zu strikte Regulierung in China beklagt wird, die höheres Wachstum verhindere. Dies interpretierte Xi Jinping, Staatspräsident und starker Mann, als persönlichen Affront – und die Antwort liess nicht lange auf sich warten. Formal wurde das IPO von der Regulierungsbehörde so unerwartet abgebrochen, weil die von Ant Financial angebotenen Online Finanzprodukte wie die virtuelle Online Kreditkarte Huabei arme und junge Bürger dazu ermutigen, sich zu verschulden.
Für Wettbewerb und gegen Monopole
Auf der zweiten Bedeutungsebene handelt es sich um eine Kurskorrektur des „kapitalistischen“ Kommunismus von weitreichender Bedeutung. Vordergründig geht es allein um die Verhinderung von Monopolen und Wettbewerbsbehinderung sowie die Schaffung von Marktchancen für neue innovative Unternehmen. Bemerkenswert ist auf jeden Fall, wie die Thematisierung und der angekündigte Kampf gegen die Monopolstrukturen in der Digital-Wirtschaft gleichzeitig in der EU, Japan, den USA und nun auch China auf den Plan treten!
Kampfansage an Multi-Milliardäre
Genauer betrachtet ist es jedoch eine Fortsetzung der Kurskorrektur in der Volksrepublik, die sich mit dem „kalten Coup“ inmitten der Corona-Krise in Hongkong bereits ein erstes Mal für den Rest der Welt klar ersichtlich manifestiert hat. Es handelt sich um eine Kampfansage an die Milliardäre des chinesischen Wirtschaftswunders, die offensichtlich nach Einschätzung des Politbüros zu übermütig und anmassend geworden sind.
Loyalität und Respekt
Noch in den 1980er Jahren gab es in der Volksrepublik praktisch keine Unternehmer, keine Finanzanlagen und keine nennenswerten Einkommensunterschiede. Dann kam die zaghafte Änderung und Öffnung unter Deng Xiaoping, einem Überlebenden der Kulturrevolution, der in vielen Punkten von Maos „reinen“ Lehren des Kommunismus abwich. Er war der Architekt von „Reform und Öffnung“. Was folgte, ist mittlerweile Geschichte. Mit dem Aufstieg zur mächtigen Volkswirtschaft und dem Status der Werkbank der Welt stiegen auch Unternehmer wie Jack Ma zu hoher Bedeutung auf. Doch die erste Generation der kommunistischen Kapitalisten war sich stets bewusst, dass ihr persönlicher wirtschaftlicher Erfolg und ihr Wohlergehen allein der Partei zu verdanken war, der unbedingte Loyalität geschuldet wird.
Selbst die vielen reichen Hongkong-Chinesen, die bis zur Übergabe der Kronkolonie an die Volkschinesen 1997 formal Briten waren, haben sich der Linie der KP angenähert, Investitionen in China getätigt und nie einen Gesichtsverlust von Politbüro, Partei oder Funktionären riskiert. Beispiele sind Li Ka-Shing, der reichste Hongkong-Chinese, der mehrere der grössten börsenkotierten Hongkong-Unternehmen kontrollierte, oder HSBC, die einst in Shanghai gegründet worden war und es während der letzten Jahrzehnte hervorragend verstanden hat, sich als unverzichtbarer globaler Finanzdienstleister für die Volksrepublik zu etablieren.
Politik der Stärke
Demgegenüber scheint es der zweiten Generation von Unternehmern in Chinas kurzer Geschichte des „roten Kapitalismus“ an Respekt und Dankbarkeit gegenüber der Partei zu mangeln. Und das kann nicht hingenommen werden, zumal in einer Zeit, die spürbar von einer Konsolidierung der Machtverhältnisse und einer innen- wie aussenpolitisch veränderten Linie geprägt ist.
Aufrüstung
So ist aus der einst rein landbasierten und eher schlecht ausgerüsteten Armee inzwischen ein stehendes Heer von 2 Mio. hochgerüsteten Soldaten geworden, die grösste Armee der Welt. Dazu sind jedoch inzwischen eine schlagkräftige Luftwaffe, eine starke nukleare Raketen-Kapazität, eine rapide aufgerüstete Marine sowie Cyber-Warfare-Einheiten getreten, was China zu einer äusserst gefährlichen Militärmacht macht. Die Hoheit im Südchinesischen Meer und weiten Teilen des Pazifiks liegt nicht mehr bei den USA oder Regionalmächten wie Japan und Australien, sondern bei China. Alle Anrainerstaaten müssen fortgesetzte territoriale Verletzungen durch chinesische Schiffe und Flugzeuge in Kauf nehmen.
Kommandostruktur
Zudem wurde die Kommando-Struktur geändert. Alle Waffengattungen sind nun dem direkten Befehl von Staatspräsident und Generalsekretär des Politbüros Xi Jinping unterstellt. Die Rhetorik ist aggressiver geworden, insbesondere mit Blick auf Taiwan und die Ausweitung der maritimen Hoheitsansprüche. Konflikte sind abzusehen. Das wird scheinbar nicht nur in Kauf genommen, sondern geradezu provoziert. Um China in allen Belangen zu der Führungsmacht in Asien und der Welt zu machen, wird eine Politik der Stärke umgesetzt. Xi Jinping ist mit Abstand der mächtigste Mann in der Volksrepublik seit Mao. Er ist der erste seit Mao, der in China „überragender Führer“ genannt wird, was in der ausserordentlichen Macht- und Ämterkonzentration begründet ist.
Eine Herausforderung für den Westen
Daran dürfte sich auch nichts ändern, denn er bleibt für eine weitere 5-Jahresperiode an der Spitze von Politbüro und Staat, und kann seit einer Verfassungsänderung 2018 sogar auf Lebenszeit agieren. Zu der Transformation der Volksrepublik gehört das Mega-Projekt der Neuen Seidenstrasse, inzwischen One Belt genannt. Weiterhin die Einführung des „social score“, die Aufrüstung und die Paktierung mit Russland, den zentralasiatischen Ländern sowie Pakistan und Iran. Es ist strategisch klug, die eigene Stärke auszubauen und zu befestigen und auch die Bevölkerung und die Eliten im Sinne der Partei-Doktrin wieder auf Kurs zu bringen, während die USA und Europa in internen und multilateralen Grabenkämpfen versumpfen. Bedenkt man, dass China die Herausforderungen durch die Pandemie sehr gut gemeistert und auch die Wirtschaft längst wieder Tritt gefasst hat, so zeigt die aktuell doch sehr unterschiedliche Entwicklung im Westen, dass China aufgrund der zentralistischen Strukturen mit Herausforderungen effektiver umgehen kann und auch bereit ist, die Chancen, die jede Krise bietet, zu nutzen. Das grosse globale Thema wird daher auf absehbare Zeit sein und bleiben, wie die Länder des Westens mit der stark zunehmenden relativen Stärke Chinas umgehen können. Hierbei geht es vor allem um die wirtschaftliche Dominanz, aber auch um die militärischen Kapazitäten.
Nächster 5-Jahresplan entscheidend für globale Klimabilanz
Unabhängig von dem Szenario eskalierender Konflikte ist China aber auch ein entscheidender Faktor im Hinblick auf Massnahmen gegen den eskalierenden Klimawandel. Die Bilanz ist gemischt. Während der Ausbau von Solar- und Windenergie voranschreitet, spielen Kohle, Öl und Gas weiterhin eine wichtige Rolle im Energiemix. Während die Marktpenetration von Elektro-Mobilen in China bereits höher ist als in fast allen anderen Märkten, führen weite Teile der Schwerindustrie die globale Liste der Luftverschmutzer an. Immerhin, auf Plastikmüll wurde eine Steuer eingeführt, was stärkere Anreize zum Recycling bringt. 2021 wird die KP den nächsten 5-Jahresplan beschliessen.
Chance zur globalen Kooperation
Eine neue globale Kooperation zur Reduzierung der Treibhausgase, initiiert durch die entschlossenen Massnahmen der EU und die Wahl des neuen US-Präsidenten, könnte China in dieser Hinsicht beweglich machen. Notwendig wäre es und zudem eine gute Gelegenheit, die Gesundheit der Chinesen und international die Reputation zu verbessern. Zudem bieten neue Märkte wie Elektromobilität, Carbon Capture + Storage Technologien, digitalisierte Landwirtschaft etc. auch grosse Chancen für chinesische Unternehmen auf den Weltmärkten.
Asian Power
Ein wichtiger Schritt ist die Unterzeichnung des Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) durch 15 asiatische Länder, darunter Japan, Südkorea, Malaysia und China, aber auch Laos und Myanmar. Dadurch werden für die nächsten 20 Jahre 90% aller Zölle unter den teilnehmenden Staaten abgeschafft und Standards für viele Produkte geschaffen, sodass Teile und Subsysteme in allen Ländern gleich sind. Allerdings muss das Handelsabkommen noch von den Parlamenten in allen 15 Staaten ratifiziert werden. Das Projekt hat sich über Jahre hingezogen und wurde von China als asiatische Alternative zum Trans-Pacific Partnership verfolgt, aus dem sich die USA unter Trump sofort verabschiedeten, nachdem es von seinem Vorgänger Obama mit ausgehandelt worden war.
Wettlauf gegen den Temperaturanstieg
Ähnlich wie die Schädlichkeit für den Wettbewerb durch Monopolunternehmen plötzlich in allen wichtigen Wirtschaftsräumen auf der Agenda nach oben rückt, verhält es sich auch mit dem Klimawandel und den zunehmend ambitioniert wirkenden Zielen. Trotz der enormen Schwierigkeiten mit dem Brexit und durch die grassierende Pandemie haben die Briten als erste Europäer die vollständige Reduzierung der Treibhausgase bis 2050 beschlossen. Erst diese Woche wurde die Entscheidung, keine Verbrennungsmotoren mehr zuzulassen, von 2035 auf 2030 vorgezogen.
Stranded Assets
Das ist kein Zufall, sondern eher Ausdruck dessen, dass die Briten traditionell grosse Umbrüche und das Aufkommen neuer Industrien früher als andere erkennen und als aktiver Teil des Wandels davon zu profitieren suchen. Nicht ganz unwichtig dürfte aber auch die Tatsache sein, dass der nun ausgeschiedene Notenbankchef Mark Carney konsequent und kontinuierlich auf die Risiken des Klimawandels hingewiesen hat. Seine Warnungen vor den „stranded assets“ werden ohne Zweifel in den neuen digitalen Lehrbüchern der Wirtschaftsgeschichte und -theorie ein wichtiges Kapitel für sich beanspruchen können. Disclosure – Offenlegung – der Risiken ist das Schlüsselwort.
BP und Shell als Lehrstücke
Das ist genau das, was BP und Shell bis 2020 nicht getan haben, indem sie, wie ihre US-Konkurrenten noch heute, mit Preisen und Nachfragesteigerungen für die kommenden Jahre und Jahrzehnte rechneten, die kaum in Einklang mit den Pariser Klimazielen von 2015 zu vereinbaren sind. Erst auf Druck von institutionellen Investoren auf die Organmitglieder und vor allem die Audit Committees änderten beide Konzerne dieses Jahr ihre Bilanzierungspraktiken. Das führte zu heftigen Wertberichtigungen auf die Reserven – eine teilweise Realisierung der stranded assets, die nun im Boden bleiben müssen. Die Kurse von BP und Shell kollabierten erst mal, die Dividendenaussichten sind deutlich eingeschrumpft.
Wertberichtigungen
Während Shell die langfristigen Preisannahmen von 70 USD auf 60 USD je Fass Öl reduzierten, agierte BP in zwei Schritten und senkte die Annahmen von 75 USD auf 70 USD und dann auf 55 USD. Die Wertberichtigungen auf die Reserven summierten sich auf einen beträchtlichen Anteil des Eigenkapitals. Da der Ölpreis um die 40 USD pendelt und die Preisaussichten eher schwach sind, ist mit weiteren Wertberichtigungen und Abschreibungen zu rechnen, die sogar das Eigenkapital übersteigen können. Bei den meisten Unternehmen der Öl- & Gas-Industrie sind ähnliche Schritte zu erwarten, namentlich bei den US-Konzernen. Aber auch in den carbon-intensiven Industrien sind viele Kosten der Klimapolitik noch gar nicht berücksichtigt, wie etwa die für die kommenden Jahren beschlossenen eskalierenden Carbon-Steuern.
Vieles ist im strukturellen Wandel, wobei externe Schocks wie die Pandemie diesen noch beschleunigen. Einstweilen dürfte die Welt von dem ungebremsten Aufstieg Chinas zur Super-Power wesentlich geprägt bleiben. Ob Biden daran etwas ändern kann, liegt daran, ob er das von Deng Xiaoping bereits in den 1980er Jahren formulierte Verhalten der US-Präsidenten beibehält: „Die USA prahlen mit ihrem politischen System, doch der Präsident sagt im Wahlkampf eines, wenn er das Amt antritt etwas anderes, wieder etwas anderes in der Mitte der Amtsperiode und nochmal was anderes, wenn er das Amt abgibt.“