Die grassierende Pandemie legt wieder weite Teile des öffentlichen Lebens still, und irrationales Verhalten bricht sich, von den Medien befeuert, weiterhin Bahn. Doch tatsächlich ist das Ende der Pandemie inzwischen auf der Basis der vorliegenden Fakten klar absehbar. Erste Zulassungen und Impf-Kampagnen dürften bereits im Dezember starten. Wie wird sich diese „Erlösung“ durch die Biotechnologie auf Börse, Gesellschaft und Wirtschaft auswirken? Und wie sind die weiteren Kursperspektiven der führenden Vakzin-Aktien?
Die Briten und die USA haben erste Massnahmen für die bevorstehenden Impf-Kampagnen ergriffen und ihre Zeitpläne bekannt gemacht. Demnach könnten nach der kurzfristig erwarteten Not-Zulassung von drei Impfstoffen – BionTech/Pfizer, Moderna und Oxford University/Astra Zeneca – bereits im Dezember die ersten Impfungen starten. Nach den Aussagen des britischen Gesundheitsministers Hancock hat die Regierung formal die Prüfung der Not-Zulassung für den BionTech/Pfizer-Impfstoff bei der Zulassungsbehörde beantragt. Eine Entscheidung könnte bereits bis Anfang Dezember fallen. Der staatliche Gesundheitsdienst ist darauf vorbereitet worden, ab 1. Dezember für den Start der Impfkampagne bereitzustehen. In den USA haben BionTech und Pfizer die Zulassung ebenfalls eingereicht; dort wird voraussichtlich am 10. Dezember entschieden. Der US-Experte Fauci geht ebenfalls von ersten Impfungen in den USA noch im Dezember aus.
Wer wird zuerst geimpft?
Zunächst sollen auf den britischen Inseln Alters- und Pflegeheime, über 80-Jährige, gesundheitlich Geschwächte und das Gesundheitspersonal geimpft werden. Danach werden sekundäre Risikogruppen bevorzugt, dann wird über Kliniken und landesweite Massenimpfzentren die gesamte Bevölkerung versorgt. Obwohl höchster politischer Druck besteht angesichts von mehr als 1.5 Mio. Fällen insgesamt, seit Anfang Oktober über 20’000 Neuinfektionen pro Tag und über 55’000 Toten, hat allein die Zulassungsbehörde die Entscheidungskompetenz, ob und wann die drei ersten Kandidaten zugelassen werden.
BionTech und Moderna sind Frontrunner
Die Reihenfolge scheint klar. BionTech und Pfizer haben als Erste die Ergebnisse der Phase-III-Studie vorgelegt. Demnach wirkt der Impfstoff bei 95% der Probanden. Ältere vertragen das zweimal im Abstand von drei Wochen injizierte Vakzin gut. Insgesamt zeigen weniger als 2% milde Nebenwirkungen wie Ermüdung nach der ersten Applikation und weniger als 4% nach der zweiten. Das sieht wie ein hervorragendes Profil aus. Auf die Schwierigkeiten mit der Kühlkette wurde bereits im April und Juli in den Brennpunktartikeln zu den Vakzin-Entwicklern hingewiesen. Doch diese logistische Herausforderung ist weitgehend gelöst. In Ländern wie UK, Schweiz, Deutschland sind zahlreiche Kühlzentren eingerichtet worden, die Lagerung, Distribution und Transport von A-Z minutiös durchplanen.
Kühlungserfordernis kein Nachteil
Die Kühltemperatur von -80 Grad Celsius ist kein Nachteil für BionTech, denn der Impfstoff soll ja nicht auf lange Zeit gelagert werden, sondern innerhalb von Stunden, allenfalls Tagen von den Produktionsstandorten zu Kliniken, Ärzten und Impfzentren transportiert werden, wo sie unmittelbar zum Einsatz kommen. Aus heutiger Sicht können BionTech und Pfizer 1.3 Mrd. Dosen bis Ende 2021 fertigen. Durch Vorverträge mit der EU, den USA, vielen europäischen und asiatisch-pazifischen Ländern ist nahezu die gesamte Produktion bereits verkauft. Die Preise variieren und liegen soweit bekannt bei durchschnittlich etwa 35 USD für zwei Dosen. Das Revenue-Sharing Agreement sieht eine 50:50-Aufteilung der Erträge vor.
Verträge mit Moderna
Auf 94,5% Wirksamkeit kommt das von Moderna entwickelte Vakzin. Die Ergebnisse der Phase-III-Studie liegen vor, doch Zulassungsanträge wurden bislang noch nicht eingereicht. Dies steht unmittelbar bevor. Sowohl die EU als auch die Briten haben nach Bekanntgabe der Phase-III-Ergebnisse Verträge über Mio. Dosen mit Moderna abgeschlossen. Die Lieferung erfolgt frühestens im März 2021. Lange Zeit der Frontrunner in der Entwicklung eines Covid-19-Vakzins, war das Unternehmen dann durch ein fehlerhaftes Studienprofil ins Hintertreffen geraten. Bei den Teilnehmern der Phase-III-Studie waren Afro-Amerikaner, Hispano-Amerikaner und indigene Bevölkerung unterrepräsentiert.
Preisregime
Moderna kann aus heutiger Sicht mit den Partnern in der Produktion, darunter Lonza und die spanische ROVI, bis zu 1 Mrd. Dosen bis Ende 2021 herstellen. Während die meisten Vakzinentwickler eher niedrige Preise berechnen, z.B. Johnson & Johnson 10 USD pro Dosis und BionTech/Pfizer 20 USD, berechnet Moderna 37 USD. Das Unternehmen hat keinen grossen Pharma-Partner und will die hohen Investitionen in Forschung und Entwicklung auch in einen kommerziellen Erfolg ummünzen. Das ist völlig legitim, könnte aber zum Nachteil werden, da es insgesamt um Multi-Milliarden-Budgets geht, die sich viele ärmere Länder ohne Unterstützung gar nicht leisten können. Ein unbestrittener Vorteil des Moderna-Impfstoffs ist die Tatsache, dass er bei normaler Kühlschranktemperatur bis zu einem Monat gelagert und transportiert werden kann. Ein relativer Nachteil zu BionTech ist dagegen, dass deutlich mehr Probanden unter, wenn auch eher milden, Nebenwirkungen litten. Nach der ersten Verabreichung nahe 4% und nach der zweiten 10%.
MRNA-Pionierin wird Nobel-Preis Kandidatin
Da Moderna insgesamt 2.5 Mrd. USD von der US-Regierung erhalten hat, werden zunächst die USA bedient. 20 Mio. Dosen sollen es bis zum Jahresende werden. Das Verblüffende und Verbindende an Moderna und BionTech ist, dass die MRNA-Pionierin Katalin Karikó nach jahrelanger Forschung 2010 zunächst bei Moderna die Weichen stellte und seit 2013 bei BionTech wesentlich für die MRNA-Forschung zuständig ist. Sie flüchtete 1985 aus Ungarn in die USA und hatte nie Zweifel, dass der Ansatz funktionieren wird. Sie wird bereits als Kandidatin für den Nobel-Preis gehandelt.
Oxford University und Astra Zeneca Vakzin mit bis zu 90% Wirksamkeit
Der voraussichtlich dritte Impfstoff, der zugelassen wird, stammt von der Oxford University und Astra Zeneca. Der Vektorimpfstoff folgt der herkömmlichen Vorgehensweise mit abgetöteten oder abgeschwächten Virusteilen, die, das ist das Innovative, mit einem Adeno-Virus der Schimpansen als Transportmittel in die menschlichen Zellen eingebracht werden. Die gerade veröffentlichten Ergebnisse der Phase-III-Studie zeigen eine Wirksamkeit, die bis zu 90% reichen kann. Die britische Regierung bestellt 100 Mio. Dosen, die EU sicherte sich ebenfalls ein Kontingent.
Biotech vs Big Pharma
Eine der Hypothesen in den Vorgänger-Artikeln von April und Juli war, dass die Biotech-Unternehmen, insbesondere die mit dem MRNA-Ansatz, das Rennen machen werden. Keine einzige der Big-Pharma-Aktien hat eigenständig wesentliche Fortschritte erzielt. Ob Glaxo, Sanofi oder Johnson & Johnson: Die Studien erreichen bislang bestenfalls Phase II. Die Erfolge resultieren weit überwiegend aus den Kooperationen mit innovativen Biotech-Unternehmen. Das zeigt sich auch an der auseinanderlaufenden Aktienkursentwicklung. Astra Zeneca kommt seit Jahresanfang auf 8%, Glaxo auf -20% in GBP, Pfizer auf -2%.
Raum für mehrere Impfstoffe
Demgegenüber zeigen die relevanten Biotech-Aktien deutliche Kurssteigerungen. BionTech von 212%, Moderna von 410% und Novavax von 2’289%. Die Volatilität nimmt immer wieder kräftig zu, je nach Nachrichtenlage, wobei gegenteilige Kursbewegungen von 10% pro Tag keine Seltenheit waren. Inzwischen ist klar, dass es keinen „Sieger“ gibt, sondern vor allem dank der MRNA-Technologie mehrere hochwirksame Impfstoffe zur Verfügung stehen werden, die in unterschiedlichen Mengen im Lauf des Jahres 2021 zum Einsatz kommen können. Dabei ist Raum für mehrere Impfstoffe. Alle genannten Hersteller sowie weitere wie CureVac haben mit Regierungen oder der EU umfangreiche Abnahmeverpflichtungen vereinbart, sofern die Impfstoffe zugelassen werden. 400 Mio. Dosen will die EU, zusätzlich zu den anderen bereits vereinbarten Deals, von CureVac, obwohl die Phase-III-Studienergebnisse noch nicht vorliegen.
Zeithorizont
Aus dem gegenwärtigen Stand der Dinge lässt sich folgern, dass voraussichtlich bereits März/April zumindest in Europa die Impfung der Bevölkerung schon fortgeschritten sein wird. Mit dem dann beginnenden Frühling und einer Abnahme der Virulenz dürfte also wohl im Verlauf des zweiten Quartals relative Normalität in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben einkehren. Wie schnell sich die Industrien im Einzelnen erholen werden, ist eine andere Frage. Eine W-förmige Formation mit dem Double-Dip März/April 2020 und Winter 2020/2021 erscheint nun sehr wahrscheinlich.
Aktienperspektiven
Bezogen auf die Aktien der Vakzinentwickler sind mehrere Szenarien denkbar. Kurzfristig müssen die entsprechenden Unternehmen wie „Erlöser“ scheinen. Die bisher risikobehaftete Anlage ist nun zumindest bei den Frontrunnern um einen Grossteil des Risikos entkleidet. Die Namen werden in den nächsten Monaten viele Schlagzeilen und TV-Berichte prägen. Dann werden BionTech, Moderna & Co. möglicherweise sehr schnell so bekannt wie Apple oder Tesla. Das Geld der vorsichtigen und zurückhaltenden Anleger wird daher wohl verstärkt auch in die Breakthrough-Biotechs fliessen. Die Kurse können dann noch weiter steigen.
Leadership rentiert sich
Weniger gute Aussichten haben die Zu-Spät-Kommer, denn es ist schon fraglich, ob die Unternehmen der dritten oder vierten Reihe überhaupt noch Teilnehmer für die Phase-III-Studien finden. Wer sollte daran noch teilnehmen wollen, wenn es doch mehrere hochwirksame und nebenwirkungsarme bereits zugelassene Alternativen gibt? Das gilt auch für die in früheren Artikel hervorgehobene Inovio, die einen DNA-Ansatz verfolgt. Die Aussichten vermindern sich, da die Zeit bis zu einer möglichen Zulassung zu lang ist. Dennoch können aus den Forschungen andere Erkenntnisse gewonnen werden.
Kommt die MRNA-Revolution?
Die tatsächliche Frage ist aber, was kann die MRNA-Technologie sonst noch? Der schnelle Durchbruch bei den Covid 19-Vakzinen – gerade 10 Monate von der Sequenzierung des Virus-Genoms bis zum Abschluss der Phase III – lässt bereits viele Hoffnungen für andere Indikationsgebiete, vor allem in der Onkologie, aufblühen. Lässt sich die Geschwindigkeit und Wirksamkeit der Vakzinentwicklung übertragen, würde ein neues, ein wirklich biotechnologisches Zeitalter die Welt der Medizin revolutionieren.