„Regierungen müssen immer sagen, dass sie alles im Griff haben.“ Karl Otto Pöhl, 1929-2014, Wirtschaftsjournalist, Bankier, Präsident Deutsche Bundesbank
Normalerweise gilt Weihnachten als die Zeit der Besinnung. Die Resultate der Reflektion werden im Ausnahmejahr 2020 zwangsläufig etwas anders ausfallen als in den Vorjahren. Die zahlreichen besonderen Faktoren erschüttern nicht nur Gesellschaft und Wirtschaft im Ganzen, sondern wirken auch tief in das individuelle Befinden der Wirtschaftssubjekte hinein. Getroffene oder anstehende Anlageentscheidungen verdienen daher, hinterfragt zu werden, denn sie können in Krisensituationen leicht von falschen Annahmen ausgehen.
Quarantäne-Koller
Was neben den täglichen Inzidenzzahlen, den News zu den Vakzin-Zulassungen und den Entgleisungen der überwiegend wirklich schlechten Politiker in der Corona-Berichterstattung zu kurz kommt, sind die mentalen Auswirkungen der Pandemie sowohl für die Infizierten als auch alle anderen. Jeder fünfte Infizierte leidet an mentalen Folgebeschwerden. Von der Deprivation, also dem Mangel an sensorischen, taktilen und kommunikativen Reizen sind jedoch alle betroffen. Mehr oder weniger. Der Quarantäne-Koller zeigt sich in Zwangshandlungen, Angstpsychosen, mangelnder Impulskontrolle oder Denk- und Verhaltensstörungen. Darunter leiden nicht nur Kinder, Frauen und Untergebene, sondern oft auch die unter monatelangen Ausnahmebedingungen getroffenen Annahmen und Entscheidungen. Das gilt auch und gerade im Bereich der Investments.
Wissenschaftsfeindlichkeit und Irrationalismus
Dass auf Prognosen nicht allzu viel Verlass ist, hat das Jahr 2020 gezeigt. Erst wurde die Pandemie verdrängt, dann ignoriert, danach wurde überreagiert, gefolgt von einem Stop-and-Go-Kurs, der rational kaum nachvollziehbar ist. Dabei haben die Medien eine wesentliche Rolle, die alles, was als Schlagzeile tauglich für die Massen ist, verwenden – auch und vor allem Irrelevantes sowie Fake News und Desinformation. Wie ist es anders zu erklären, dass in vielen Ländern ein Drittel und mehr der Bevölkerung nicht geimpft werden will, weil ihnen angeblich „ein Chip implantiert“ werden soll. Eine nüchterne und sachliche Aufklärung der Bevölkerung auf wissenschaftlicher Basis hätte zu anderen Ergebnissen geführt. Doch es scheint, als ob Verschwörungstheoretiker und Populisten die Pandemie als Chance gesehen haben, um, inspiriert von „Akte X“ den Umsturz der etablierten Ordnung zu betreiben.
Ungleichgewichte und Annahmen
Stimmen die allgemeinen Annahmen, was die weitere Erholung der Weltwirtschaft anbelangt? Wie wird sich die fortgesetzte Liquiditätsschöpfung der Notenbanken auswirken angesichts der bereits hohen Bewertungen an den Börsen? Werden die Investoren die hohen und steigenden Staatsdefizite aufgrund der Corona-Massnahmen weiterhin tolerieren? Diese und andere Fragen werden das Geschehen an den Finanzmärkten 2021 wesentlich prägen. Manche aktuellen Entwicklungen sind schon als vorauslaufender Schatten dessen, was kommt, zu interpretieren.
Prognose 1: Crypto goes Mainstream
Erst in der Macro Perspective vom Oktober war die rhetorische Frage aufgeworfen worden, ob der Bitcoin nun auf 1 Mio. USD steigen wird. Zu diesem Zeitpunkt hatte die wichtigste Krypto-Währung nach jahrelanger Seitwärtsbewegung gerade ihr altes Zwischenhoch bei 12’200 USD überboten. Zwei Monate später ist nun auch das historische Hoch bei 20’000 USD aus 2018 gefallen. Der Wert aller ausstehenden Bitcoins beträgt auch nach den Avancen gerade einmal 400 Mrd. USD. Der in den letzten Wochen verstärkte Einstieg von institutionellen Investoren legt nahe, dass das Potenzial nach dem Preisanstieg noch lange nicht erschöpft ist. Korrekturen sollten zwar nach dem vertikalen Anstieg nicht überraschen, doch der Trend dürfte nach oben gerichtet bleiben. Ein Hauptgrund für ein Engagement ist und bleibt das Vordringen der Kryptowährungen auch in den Bereich Zahlungsmittel sowie vor allem das fehlende Gegenparteirisiko bei Anlageüberlegungen.
Prognose 2: Wiederentdeckung der Edelmetalle
Das ist auch der Punkt, der für Gold und andere Edelmetalle spricht. Sie weisen kein Gegenparteirisiko auf. Und in einer Zeit, in der sich Regierungen und andere Emittenten immer mehr Kapital zu immer geringeren Zinsen leihen – manchmal wie in den Fällen Schweiz oder Nestlé lassen sie sich sogar dafür bezahlen, dass sie das Kapital der Anleger annehmen – entfällt auch das Argument, dass Gold keine laufenden Einkünfte beschert. Der Wert und das Potenzial für weitere Preissteigerungen erwachsen vielmehr aus der Tatsache, dass Edelmetalle selten sind und nicht vervielfältigbar. Angesichts der weltweit exponentiell steigenden Verschuldung spricht für 2021 vieles für einen weiterhin steigenden langfristigen Preistrend des „barbarischen Relikts“ Gold.
Prognose 3: Schuldenberge wachsen
Viele Länder wie Japan oder Italien bewegten sich bereits vor dem Ausbruch der Pandemie jenseits der Verschuldungsquote, die gerade noch als stabile Finanzpolitik bezeichnet werden kann. Doch bei Zinssätzen von 0% in Japan und inzwischen 0,57% in Italien für 10-jährige Staatstitel gibt es keinen Anlass zur Rückführung der Verbindlichkeiten, vielmehr bietet die Pandemie einen guten Vorwand für eine noch höhere Schuldenaufnahme. Auch andere Länder, deren Schuldenquote vor Corona noch akzeptabel schien, sind nun in einen anderen Schuldenmodus übergegangen, darunter die meisten EU-Länder und die Leitökonomie USA. Staatsanleihen sind für Anleger in der Regel ein Verlustgeschäft. So sind auf die 0,95%, die 10-jährige US-Staatsanleihen abwerfen, Steuern zu zahlen. Zieht man von dem, was übrigbleibt, noch die CPI-Inflation von über 1% ab, bleibt eine negative reale Rendite. Ähnlich ist die Lage in Europa. Es sei denn, die Anleihehalter rechnen mit einer extrem schwachen Wirtschaftsentwicklung über die kommenden 10 Jahre mit negativen Preissteigerungsraten – also einer Depression. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Anleger in Anbetracht der substanziell gestiegenen Risiken einen höheren Zinssatz für die Bereitstellung ihres Kapitals fordern werden. Der daraus resultierende Dominoeffekt dürfte sich negativ auf die Bewertung der Aktienmärkte auswirken.
Prognose 4: Re-Balancing an den Devisenmärkten
Aus Schweizer Perspektive ist die Frankenstärke das bestimmende Thema mit Blick auf die Devisenmärkte. Doch tatsächlich macht der CHF/USD Trade einen nur geringen Anteil an den globalen Transaktionsvolumina aus. Einen weit höheren Anteil hat der EUR/USD Trade. Hier sind auch die Volatilitäten höher. Von anderen Nachrichten überschattet, hat der Trend des USD inzwischen eindeutig gewechselt. Noch im Mai kaufte der Euro 1.08 USD, jetzt 1.22 USD. Damit dürfte das Zwischentief von Anfang 2018 bei 1.24 Euro bald fallen, und der Weg bis zum Tief von 2014 bei 1.38 Euro wäre offen. Solche Verwerfungen, auch wenn sie über Monate und Quartale auftreten, werden die Asset-Märkte und die Volkswirtschaften nicht unberührt lassen.
Eine Dollarschwäche hat mehrere Aspekte, von denen einer in der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit an den Weltmärkten besteht. Ein anderer liegt in der importierten Inflation, die helfen wird, das 2%-Ziel der Fed zu erreichen. Doch neben den gewünschten Effekten treten in so einem Fall auch immer unbeabsichtigte Konsequenzen auf. Verlust an Vertrauen und Reputation an den Finanzmärkten, Kapitalflucht und ein Geruch von Niedergang wie beim britischen Pfund über die vergangenen Jahrzehnte. Ein solches, nicht unwahrscheinliches Szenario, würde wohl auch den Aufwärtsdruck auf den Franken weiter akzentuieren. Im Dezember 2014 war „Unbeabsichtigte Konsequenzen“ der Titel der ersten Macro Perspective, damals allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Nachdem sich der USD zwischen 2006 und 2014 zwischen 1.20 Euro und 1.57 Euro bewegt hatte, kam es dann zu der Dollar-Stärke, die wir die letzten fünf Jahre gesehen haben. Wenn aber die Gleichförmigkeit in der Bewegung von CHF und USD endet, können die Verwerfungen für die Schweizer Währung auch signifikant ausfallen.
Prognose 5: Kontinuität des Kurses der Notenbanken
Seit Jahren schon heisst es an der Börse nicht zu Unrecht: Central banks are the only game left in town! Tatsächlich sind die Kurssteigerungen bei Aktien und Bonds ohne die QE-Programme in Billionenhöhe und die abgestimmte Tiefzinspolitik kaum denkbar. Das Ziel die Wirtschaft, durch günstige Finanzierungsbedingungen, auch wenn künstlich hergestellt, zu stimulieren, ist ja legitim und sinnvoll, aber eben nur, solange es auf Ausnahmesituationen Anwendung findet. Etwa nach 9/11 oder zur Abwendung des Kollapses der Märkte in der Finanzkrise von 2008/2009. Auch die Pandemie ist zweifellos eine solche Ausnahmesituation, die es erfordert, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um bleibenden Schaden abzuwenden. Das Problem ist aber, dass die konjunkturell besseren Phasen nur von wenigen Ländern mit ohnehin guter Bonität wie die Schweiz und Deutschland zur Schuldenreduzierung, zumindest relativ zum BIP, genutzt wurden. Das bringt die Währungshüter dazu, zu den unkonventionellen Erklärungen der Modern Monetary Theory Zuflucht zu nehmen, um ihre dauerhaft etablierten unkonventionellen Massnahmen zu begründen. Inzwischen haben zwar viele Länder auch fiskalische Massnahmen zur Stimulierung ihrer Volkswirtschaften getroffen, doch die Börse wird weiterhin den Notenbankern an den Lippen hängen und von weiterem monetary easing abhängig bleiben. So gesehen bleibt das Investitionsumfeld für Aktien wegen der hohen Liquidität auf unabsehbare Zeit intakt, jedenfalls solange der Markt nicht ein höheres Zinsniveau durchsetzt.
Prognose 6: Irrational hohe Bewertungen an den Aktienmärkten können weiter steigen
Die Börse ist zwar langfristig rational, doch Phasen der Zerknirschung und des Überschwangs sind nun mal kennzeichnend für die Übertreibungen der kollektiven Anlegerschaft. Ein entscheidender Faktor für das Vorherrschen von Manie oder Depression ist der Kreditzyklus. Es gab keinen Börsencrash, dem nicht ein Kreditboom vorausging. Da die Bedingungen für eine weiterhin hohe Kreditschöpfung gegeben sind, dürfte 2021 wohl auch weiterhin steigende Aktienkurse bringen. Diese werden allerding ungleich verteilt sein.
In den letzten 12 Monaten hat sich der Tesla-Kurs verzehnfacht, die Market Cap liegt nun bei 660 Mrd. USD, dem Zwölffachen von GM. Die Börsenneulinge Airbnb und DoorDash erreichten am ersten Handelstag nach ihren IPOs Börsenbewertungen von jeweils über 80 Mrd. USD. Die Market Cap des Biotechs Moderna erreichte in der Spitze 75 Mrd. USD, ohne eine einzige Zulassung erreicht zu haben, fast gleichauf mit dem Pharma-Riesen GSK, der Milliarden Cashflows erreicht. Die Favoriten wechseln, und ähnlich wie in früheren vergleichbaren Phasen konzentriert sich das Anlagekapital auf immer weniger Titel, die als Leader neuer Technologien und innovativer skalierbarer Geschäftsmodelle gesehen werden.
Viele old-economy-Unternehmen sind im Abstieg begriffen. 2016 lautete der Titel der Macro Perspective im Juni „Peak Car“. Der Strukturwandel zeigt, dass der wirkliche Wettbewerb nicht von den anderen Vertretern der Industrie kommt, sondern durch neue Konzepte, neue Organisationstypen und neue Waren oder Services. Die kollektive Market Cap von BMW, Daimler und VW ist seit Juni 2016 nahezu unverändert bei 140 Mrd. Euro, die von Tesla hat sich von 32 Mrd. USD auf 660 Mrd. USD verzwanzigfacht. Die Schulden der deutschen drei sind jedoch von 590 Mrd. Euro auf 775 Mrd. Euro Stand Ende 2019 angestiegen.
Prognose 7: Monopolistische Strukturen im Visier
Die Geschichte der Monopole ist lang. Mal behielt der Staat sie sich selbst vor, mal wurden sie verkauft, mal an Vasallen vergeben. In der Moderne formierten sich Monopolbetriebe dann, wenn sie gewünscht oder geduldet waren oder aber gezielt und teils mit Gewalt und Zwangsausübung durch sogenannte Räuberbarone. Das waren zu Beginn der Industrialisierung in den USA Namen wie Rockefeller, Carnegie und Vanderbilt, doch in der Post-Moderne sind es Unternehmen wie Microsoft, Amazon, Facebook und Google, die durch Technologieführerschaft, Übernahmen und wettbewerbswidriges Verhalten zu mächtigen Monopolisten geworden sind, die den Wettbewerb verzerren, Monopolgewinne einstreichen und damit dem Konsumenten wie der Gesellschaft als Ganzes Schaden zufügen. Die EU, Japan, China und auch die USA haben inzwischen die Monopolstrukturen im Blick und ihnen mehr oder weniger deutlich den Kampf angesagt. Das bringt Chancen für Start-ups mit innovativen Lösungen, dämpft aber auch die Perspektiven der langjährigen Lieblinge der Anleger.
Prognose 8: Anlage wird von Sustainability geprägt
Jede echte Börsen-Story gewinnt dann an Fahrt, wenn der Sektor oder das Thema aus der Nische tritt und zum Allgemeingut wird. Computer- und Chip-Aktien, Emerging Markets, Digitalisierung oder Krypto – und eben auch das Investment nach ESG-Kriterien. Inzwischen ist ein international tätiges, börsenkotiertes Unternehmen bis zu 800 Regulierungen durch Börsen, Börsenaufsichtsbehörden und Regierungen unterworfen. 2010 waren es noch 200. Aus Investorensicht erscheint das Feld unausgereift. Eine 2019 erstellte Studie des MIT ermittelte eine Korrelation der ESG-Ratings derselben Unternehmen durch diverse Anbieter von gerade mal 0.61. Im Bereich Credit Rating sind 90% üblich. Dennoch bleiben viele Möglichkeiten, besser ESG-konform zu investieren. Laut einer aktuellen Goldman-Sachs-Analyse von 50 Bio. USD institutionellem Anlagevermögen sind noch 36% lediglich nach Auschlusskriterien investiert, d.h. Kohle, Waffen und Tabak sind ausgefiltert. 64% sind nach unterschiedlichen aktiven Selektionsverfahren wie Screening, Best-in-Class, Voting angelegt. Zu erwarten ist, dass die Aktien wirklich nachhaltiger Unternehmen auch zukünftig besser als andere Vertreter ihrer Industrien performen werden.
Bezüglich der gewagten unkonventionellen Notenbankpolitik, wie sie heute praktiziert wird, kann das Bedenken von Pöhls Aussage von 1980 nicht schaden: „Inflation ist wie Zahnpasta. Ist sie erst einmal draussen, bekommt man sie nicht wieder hinein. Deshalb ist es am besten, nicht zu stark auf die Tube zu drücken.“