Seit dem 1. Februar 2021 gibt es nun zwei ESG-Indizes der SIX, die den SPI als Basis haben. Endlich, werden manche Teilnehmer sagen, doch andere sagen eher: auch noch. Das Thema Nachhaltigkeit hat auf jeden Fall rund um den Globus Einkehr in den Investment-Alltag genommen, und daher ist dieser erste Schritt der SIX grundsätzlich zu begrüssen. Vor allem werden die gestiegenen Informationsbedürfnisse der institutionellen und privaten Investoren erfüllt. Der Finanzplatz Schweiz gewinnt international an Profil.
Immer grössere Anteile der weltweit von Kapitalsammelstellen wie Investment Fonds, Versicherungen und Pensionskassen verwalteten Vermögen werden nach nachhaltigen und verantwortlichen Prinzipien investiert. Und auch ein wachsender Anteil von Privatanlegern will sauber investieren und mit gutem Gewissen schlafen.
Aus der Nische zum Mainstream
Was zunächst als Nische für Philantropen oder bestenfalls kirchliche Vermögensverwaltungen begann, ist 2021 längst zum Mainstream geworden. Je nach Strenge der Kriterien sind bereits weite Teile des globalen Anlagevolumens nachhaltig investiert – so könnte man jedenfalls glauben, folgt man den Schlagzeilen der voll entfesselten Marketing-Maschinerie der Finanzindustrie.
Net-Zero-Ziele der Regierungen
Dies spielt auch den Regierungen in die Hände, die zwar lauthals unerreichbar scheinende Net-Zero-Ziele postulieren, doch die entsprechenden Massnahmen zu wenig und zu spät treffen, um die Dekarbonisierung der Volkswirtschaften tatsächlich spürbar voranzutreiben und die selbstgesteckten Ziele auch zu erreichen, bevor der Planet überhitzt. Zudem scheint den sozialen Aspekten wie der wachsenden Ungleichheit in den aktuellen Debatten zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu werden. Wird das nun zur Sache der Multi-Milliardäre wie Jeff Bezos, der seinen 10 Mrd. USD Earth Fund hauptsächlich der sozialen Gerechtigkeit widmen will?
Negativ-Rekorde
In Wirklichkeit ist die Lage des Planeten und seiner Bewohner weit davon entfernt, Grund zur Sorglosigkeit zu bieten: Die Emissionen steuern 2021 auf einen neuen Rekordwert zu, ebenfalls die Temperaturen. Die Gletscher schmelzen oder brechen ab, der Meeresspiegel steigt, und Mikro-Plastik ist mittlerweile nicht nur in der Nahrungskette, dem Wasser und der Luft, sondern sogar bis in die menschliche Plazenta vorgedrungen. Die Anzahl der zweifelsfrei demokratischen Länder nimmt rapide ab, die Freiheit von Presse, Justiz und Minderheiten wird weltweit, aber auch im Herzen Europas wie in Ungarn und Polen eingeschränkt.
ESG-Rating-Agenturen in Schlüsselrolle
Eine wichtige Rolle in der Aufhebung der kognitiven Dissonanzen, die zwischen Behauptungen von Unternehmen, Finanzindustrie und Regierungen auf der einen Seite und der traurigen Realität auf der anderen Seite entsteht, fällt mittlerweile neben den NGOs immer mehr den ESG-Rating-Agenturen zu. Sie bilden einen bestenfalls neutralen Filter für Greenwashing, unfundierte Behauptungen und Fake News aller Art. In der Theorie gleicht ihre Rolle dem Credit Rating, das den Investoren auf analytischer Basis Aufschluss über das wirkliche Financial Standing und jegliche Kredit- und Geschäftsrisiken geben soll.
Unterschiede zum Credit Rating
Doch in der Praxis ist das ESG-Rating kaum vergleichbar. Während das Credit Rating von Standardunternehmen durch z.B. 10 verschiedene Analysten in der Regel allenfalls marginale Differenzen aufweist, zeigt das ESG-Rating regelmässig grosse Unterschiede. Der Grund ist die Methodik. Diverse Studien wie von der MIT Sloan School of Management oder der Harvard Business School belegen die hohen Anwendungs-, Messungs- und Gewichtungs-Divergenzen im ESG-Rating. Im Credit Rating ist dagegen klar, dass es um Bonität, Gewinnspannen und vor allem die Fähigkeit, die Kredite bedienen und zurückführen zu können, geht. Die Finanzmathematik ist vorgegeben und lässt nur begrenzten Spielraum.
Evolution der Rating-Methodik
Im ESG-Rating geht es dagegen nur teilweise um berechenbare Grössen, aber zum überwiegenden Teil um höchst unterschiedlich ausgestaltbare Kriterien, die weder in jedem Fall verständlich und nachvollziehbar sind noch unbedingt einer wissenschaftlichen und ethischen Prüfung standhalten. Die Folge ist ein Nebeneinanderher zahlreicher ESG-Rating-Anbieter, die soweit auch scheinbar alle ihre Kunden finden. Nicht wenige Anlage-Institutionen haben aber ihr eigenes System zur Evaluierung der Nachhaltigkeit entwickelt.
5%-Hürde
In der Praxis setzen sich jedoch die einfachen Lösungen durch. Diesem Weg folgt auch die SIX mit ihrem ESG-Index. Es ist ein breit gefasster Index und sollte somit auch eine hohe Akzeptanz erfahren. Erreicht wird dies durch Konzentration auf den kleinsten gemeinsamen Nenner im ESG-Rating-Dschungel. Wer nicht mehr als 5% seines Umsatzes mit den als kritisch eingestuften Sektoren Glücksspiel, Erwachsenenunterhaltung, Wettspiele, Nuklearenergie, Rüstungsgüter, Kohle, Ölsand, Alkohol, Tabak und Gentechnik erzielt und ein Impact Rating von wenigstens C+ auf der bis D- reichenden Skala erreicht, kann Bestandteil des SPI ESG Index sein.
ESG-Impact
Für das ESG-Rating greift die SIX auf Inrate zurück, eine bereits 1990 gegründete Schweizer Nachhaltigkeits-Ratingagentur, die vor allem Pensionskassen, Versicherungen, Banken, NGOs und Stiftungen zu ihren Kunden zählt. Ein grosses Team deckt nicht nur Aktien, sondern auch Anleihen, Immobilien, Private Equity und Länder ab. Seit 2012 wird mit der ESG-Impact-Methodik gearbeitet. Diese misst und evaluiert die tatsächlichen, positiven wie negativen, Auswirkungen des Wirtschaftens der Unternehmen auf Umwelt und Gesellschaft. Ein guter Ansatz, der auch die SIX überzeugt hat.
Ausschlussliste als Filter
Ist das SPI-Unternehmen nicht wesentlich in den kritischen obengenannten Sektoren aktiv und erreicht mindestens das C+-Rating von Inrate, so ist nur noch eine Hürde zu nehmen. Steht das Unternehmen nicht auf der Ausschlussliste des Schweizer Vereins für verantwortungsbewusste Kapitalanlagen, so ist es im ESG-Index der SIX enthalten. Das trifft auf die meisten SPI-Unternehmen zu, aber eben nicht auf alle. BKW und Romande Energie sind als Produzenten von Nuklearenergie ebenso ausgeschlossen wie die Gentechnik-Unternehmen Molecular Partners, Evolva und BB Biotech. Weiterhin nicht vertreten sind Dufry, Zur Rose, Swissquote, Arbonia, Huber + Suhner, Valora, Bell Group, AluFlexPack, TX Group, Von Roll, Kudelski, Klingelnberg und eine ganze Reihe weiterer Aktien. Insgesamt ist rund ein Drittel der SPI-Aktien nicht im ESG-Index repräsentiert.
Zwei Indexvarianten
Der ESG-Index der SIX wird in zwei Varianten berechnet. Die eine ist an der Marktkapitalisierung der Indexkomponenten ausgerichtet. Kaum überraschend entfällt folglich auf Nestlé 20% der Indexgewichtung. Es folgen Roche und Novartis mit 15% respektive 14%, Zurich mit 4% sowie ABB, UBS, Richemont und Lonza mit je 3%. Die Top 10 machen 69% der Gewichtung aus.
Unterschiede
Die zweite Variante ist dagegen anders gewichtet. Hier fällt neben der Marktkapitalisierung auch das ESG-Rating ins Gewicht. Je höher das Unternehmensrating, desto höher die relative Gewichtung. Die Details finden sich hier. Die Entwicklung der beiden Indizes könnte durchaus zeitweilig auseinanderlaufen.
Fazit
Die Lancierung der SIX ESG-Indizes ist ein Fortschritt, denn es erleichtert den Anlegern die Auswahl. Die Kriterien sind so gesetzt, dass unter ESG-Filtern problematische Wirtschaftssektoren ausgeschlossen werden, aber eben nur, wenn diese weniger als 5% des Geschäftsvolumens ausmachen. Dennoch bieten die ESG-Indizes gute Orientierungspunkte. Letztlich trifft der Investor seine Anlageentscheidungen selbst, und so bleibt es ihm auch überlassen, ob er sich mit der 5%-Regel zufriedengibt oder doch kategorisch vorgeht.
Auch die ausgeschlossenen Industrien lassen sich selbst unter ESG-Aspekten kontrovers diskutieren. Manche halten die emissionsarme Nuklearenergie für nachhaltig. Selbst Rüstungsgüter lassen sich zur Verteidigung von Demokratie und Freiheit als nachhaltig für deren Fortexistenz betrachten, wenn auch Landminen und Streumunition ausgeschlossen sein können. Warum Biotechnologie ausgeschlossen ist, aber Chemo-Pharmazeutik nicht, lässt sich ebenfalls hinterfragen. Ist es nicht nachhaltig, dass die mRNA-basierten Vakzine viel effizienter und besser anpassbar an neue Virus-Varianten sind und damit die Pandemie schneller beenden helfen? Und liegt der Gentechnik-Umsatzanteil bei Roche und Novartis und auch Lonza nicht deutlich über 5%?
Am Ende muss jeder Investor selbst bestimmen, was ihm wichtig bei der Anlage ist und was nicht. Die ESG-Indizes der SIX bieten nun eine erste Orientierungshilfe, was die Transparenz erhöht. Das ist löblich, sollte aber nicht mehr als der Anfang einer an vollständiger Transparenz orientierten ESG-Indexologie sein.
inrate-CEO Christoph Müller beantwortet Fragen von Autor Karim Serrar zu den ESG-Kritieren für die neuen SIX-Indizes.