Noch vor 15 Jahren wurden nur halb so viele Bekleidungsstücke wie heute gefertigt. Drei Viertel davon landen über kurz oder lang auf den Mülldeponien. Und die Mode-Zyklen werden immer kürzer. Kleidungsstücke werden oft sogar nur einmal getragen, denn der nächste Trend ist bereits da – und der übernächste kündigt sich schon an.
Im Bereich der Textilmaschinen ist die vor 225 Jahren gegründete Schweizer Rieter AG mit einem Marktanteil von 30% der unangefochtene Weltmarktführer. Nach vielen schwierigen Jahren hat sich der Auftragseingang 2021 auf sensationelle 2,2 Mrd. CHF mehr als verdreifacht. Eine Anlagechance?
Auftragsboom und Strukturwandel
Handelt es sich bei dem Auftragsboom in 2021 nur um einen ausgleichenden Effekt mit Blick auf das schwache erste Pandemie-Jahr 2020? Oder signalisiert die stürmische Bestelltätigkeit einen strukturellen Wandel, bei dem die Verarbeiter von Garnen ihren gesamten Maschinenpark verjüngen und modernisieren, um so Wettbewerbsvorteile im hart umkämpften globalen Markt zu erlangen? Der Nachholeffekt ist zweifellos ein Fakt mit Blick auf 2021. Doch ebenso klar ist, dass die Textilindustrie einem rapiden Strukturwandel unterworfen ist, der durch die Pandemie sogar auf vielfältige Weise beschleunigt wurde.
Powerhouse Asien
Obwohl viele westliche Markenunternehmen wie aktuell C&A, Nike oder Benetton die Produktion von Bekleidung in ihre Absatzmärkte oder zumindest in deren Nähe heimholen, sind doch die fünf grössten Absatzmärkte für Rieter inzwischen ausnahmslos asiatische Länder. Die westlichen Hersteller wollen wegen der Lieferkettenproblematik ein Stück weit Autarkie zurückgewinnen, selbst wenn die Kosten im Mittelmeerraum oder in Lateinamerika höher als in vielen asiatischen Staaten sind. Doch Europa und Nordamerika bilden nur einen Markt von weniger als 1 Mrd. Konsumenten, von denen die meisten im oder nahe am Pensionsalter sind und folglich weniger an rasch wechselnden Modetrends interessiert sind. In Asien stehen dagegen mehr als 4 Mrd. Konsumenten, die meisten unter 40 Jahren, hinter der Nachfrage.
Eine 1-Bio.-USD-Industrie
Abgesehen davon, dass sich das Zentrum der Textilproduktion nun nach Asien verlagert hat, prägen weitere Faktoren die Marktentwicklung. Der globale Textilmarkt hat 2020/2021 die 1-Bio.-USD-Umsatzmarke überwunden. Das jährliche Marktwachstum bis 2028 wird von Grand View Research auf 4,4% jährlich geschätzt. 39% des Marktvolumens entfällt auf Baumwolle, 13% auf Wolle. Neben Seide spielen auch Bastfasern und Leinen eine wieder wichtigere Rolle. Im Vormarsch sind seit langem die Kunstfasern Polyester und Nylon, in jüngerer Zeit aber auch Metalle, optische Fasern und Polymere in sogenannten „Smart Textiles“.
Marktfaktoren
Der globale Markt ist vor allem durch Effizienzsteigerungen geprägt. Durch die steigende Automatisierung verliert der Lohnfaktor zunehmend an Gewicht. Was heute zählt, sind geringere Energiekosten, Steigerung von Qualität und Quantität sowie die Erfüllung der stark veränderten Konsumentenwünsche. Da bislang nur 1% des Textilmülls dem Recycling zugeführt wird, verlangen immer mehr Konsumenten nachhaltig produzierte Kleidungsstücke. Das kann unterschiedliche Ausprägungen annehmen.
Langlebigkeit, Bio-Qualität und Recycling
Stoffe wie Harris Tweed, Filz oder Loden sind langlebig und können auch länger als 20 Jahre getragen werden. Der zweite Trend ist, dass die Rohstoffe fair und umweltfreundlich produziert werden. Das Problem hier ist, dass die Baumwolle aus biologischem Anbau nur wenige Prozente an der Weltproduktion ausmacht. Unter Nachhaltigkeitsaspekten wäre ein rascher Wandel besonders sinnvoll. Baumwolle macht zwar nur ca. 2% der weltweiten Agrarflächen aus, zieht jedoch 16% der insgesamt eingesetzten Insektizide auf sich. Dabei steigt die Nachfrage nach Bio-Baumwolle boomartig, nicht zuletzt, weil sie die häufig gewordenen Textil-Allergien nicht auslöst. Die dritte Möglichkeit besteht darin, Textilien zu recyceln und die Fasern wiederzuverwenden. Manche Modehäuser wie Prada haben den Trend mit neuen Kreationen und einem verstärkten Umweltbewusstsein verknüpft – und so auch ihr Image verjüngt. In Modestädten wie Mailand, Paris oder New York entsteht bereits eine neue Mode-Kultur mit eigener Community, eigenen Messen und Läden.
Neue und alte Materialien
Ein weiterer Trend in der Textilindustrie besteht darin, vernachlässigte Materialien wiederzuentdecken wie Flachs, Hanf und Leinen oder mit neuen Naturmaterialien zu experimentieren. Orangenschalen, Pilze, Rinden, Palmblätter, Wasserpflanzen – der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Die Käufer wollen zwar neue Kleidung, aber zunehmend auch ein gutes Gewissen beim Kauf. Inakzeptable Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung, Müllberge, Wasserverschmutzung oder der Einsatz gesundheitsgefährdender toxischer Chemikalien werden immer weniger toleriert. Viele Markenhersteller und Händler sehen darin eine Chance zur Differenzierung im Wettbewerb. Gleichzeitig wächst auch der Druck institutioneller Investorenvereinigungen mit nachhaltiger Agenda. Der Druck wird auf die involvierten Unternehmen ausgeübt, aber auch auf Regierungen und Regulatoren.
Innovationen
Als Weltmarktführer im Bereich der garnverarbeitenden Textilmaschinen kommt Rieter eine wichtige Rolle bei der Transformation der Bekleidungsindustrie zu, denn, egal, ob Recycling, neue Materialien oder Qualitätssteigerungen, immer kommt es darauf an, dass die Maschinen in der Lage sind, die neuen, teils komplexen Anforderungen mit effizienten Prozessen zu meistern. Flachs- und Hanf brauchen weniger Wasser und kaum Pestizide und erleben, nicht zuletzt deshalb, ein Revival. Allerdings müssen die Fasern erst verkürzt und verfeinert werden, damit sie die gewünschten Eigenschaften von Baumwolle aufweisen. Recycelte Fasern lassen sich nicht einfach untermischen, sondern müssen erst gereinigt und aufbereitet werden, um sich ebenso fehlerfrei verarbeiten zu lassen wie frische Fasern. Je nach Material könnten bis zu 75% der neuen Garne aus Recyclingmaterial bestehen.
Digitalisierung bringt Wettbewerbsvorteile
Auch die Digitalisierung der Prozesse trägt zu einer nachhaltigen Produktion bei. In der „Rieter Digital Spinning Suit“ werden die einzelnen Prozess- und Produktionsstufen vernetzt und optimiert, was zur schnellen Identifikation von Einsparpotenzialen und Ineffizienzen führt. Zu den Resultaten zählen CO2-Reduzierung durch einen sinkenden Energieverbrauch und damit auch geringere Betriebskosten. Die Digitalisierung geht Hand in Hand mit der Automatisierung. Im Spinnereibetrieb können mit den heute verfügbaren intelligenten Maschinen bis zu 40% der Lohnkosten eingespart werden.
Marktkräfte und Marktgrösse
Die Textilindustrie befindet sich in einem vielschichtigen Strukturwandel, der die Player belohnen wird, die schnell Anpassungen vornehmen. Die wesentlichen Änderungen sind die Verlagerung des Schwerpunktes nach Asien sowie neue, oft vom Nachhaltigkeitsgedanken getriebene Nachfrageänderungen. Die jährliche globale Marktgrösse für die in der Bekleidungsindustrie zum Einsatz kommenden Stapelfaser-Maschinen beziffert Rieter auf 3.2 Mrd. CHF bis 4 Mrd. CHF. Rund 30% Marktanteil hält das Unternehmen.
Struktur des Order-Booms
Charakteristisch für das starke Comeback im Jahr 2021 ist zweierlei: erstens der ungewöhnlich kräftige Anstieg des Auftragseingangs um 400%, in Halbjahreszahlen gerechnet, zwischen dem ersten Halbjahr 2020 von 251 Mio. CHF auf 1.25 Mrd. CHF im zweiten Halbjahr 2021! Zweitens die Struktur: Obwohl auch die Bereiche Komponenten und After Sales kräftig zulegten, der Löwenanteil des Auftragsvolumens entfällt auf den Bereich Maschinen & Systeme. Hier stieg der Bestelleingang gegenüber den 364 Mio. CHF in 2020 auf über 1.7 Mrd. CHF.
Rieter Zahlenkranz 2021
Der Umsatz stieg 2021 deutlich um 69% auf 969 Mio. CHF. Davon entfallen lediglich 43 Mio. CHF auf Europa und 150 Mio. CHF auf Nord- und Südamerika. Türkei, China, Indien und weitere asiatische Länder wie Pakistan und Usbekistan stehen für den Rest. Die Preise wurden von Rieter bereits um 10% angehoben, weitere Erhöhungen sind wahrscheinlich. Der Auftragsbestand im Bereich Maschinen & Systeme reicht bis ins Jahr 2024. Ende 2021 wurde auch die Akquisition von drei Tochtergesellschaften vom Saurer-Konzern publik. Sie sollen den Bereich Komponenten verstärken respektive die Automation im Bereich der Spulmaschinen. Die EBIT-Marge für 2021 wird bei 4,5% bis 5% erwartet.
Zyklischer oder struktureller Wachstumsschub?
Das Textilmaschinengeschäft ist hochgradig zyklisch. Insofern zeigt der Bestellboom allgemein, aber insbesondere bei neuen Maschinen & Systemen zunächst einmal, dass nach der Zurückhaltung im ersten Pandemie-Jahr 2020 ein starker zyklischer Aufschwung eingesetzt hat. Doch darüber hinaus spricht auch vieles dafür, dass es sich um mehr als nur einen simplen Nachhol-Effekt handelt. Die Verlagerung des Schwerpunktes in die asiatischen Länder ebenso wie die Heimholung von Produktion in die westlichen Länder oder deren Peripherie erfordert neue Maschinen. Dazu tritt als treibender Faktor, dass sowohl die Nachfrage der Konsumenten nach nachhaltig produzierter Bekleidung steigt als auch der Druck, die Emissionen, den Energie- und Wasserverbrauch sowie die Müllmengen zu reduzieren.
Fazit
Somit könnte der gegenwärtige zyklische Aufschwung bei Rieter auch in einem strukturellen Wachstum münden, da der Strukturwandel in der Textilindustrie vor allem einen erneuerten und hocheffizienten Maschinenpark benötigt, um den unterschiedlichen Anforderungen der Nachfragekräfte gerecht werden zu können. Durch die Saurer-Akquisitionen, die Preiserhöhungen sowie den hohen Auftragsbestand zeichnet sich für 2022und 2023 bei Rieter ein Umsatzanstieg von 760 Mio. CHF in 2019 und 573 Mio. CHF in 2020 auf 970 Mio. CHF in 2021 und 1.5 Mrd. CHF bis 1.7 Mrd. CHF in 2022 und 2023 ab.
Die Gewinnmargen dürften kräftig steigen. Nach einem Verlust je Aktie von 20 CHF in 2020 zeichnet sich für 2021 ein Gewinn von über 7 CHF ab. Für 2022 und 2023 sind dann rund 20 CHF je Aktie zu erwarten. Damit ist Rieter mit einem KGV von deutlich unter 10 bewertet. Zu wenig für eine kraftvolle zyklische Erholung, und deutlich zu wenig, sollte eine mehrjährige Investitionsoffensive der Textilunternehmen in deren Wettbewerb um den Endverbraucher folgen. Ein erstes Kursziel von 250 CHF erscheint realistisch, zumal in einem Börsenumfeld, das von beginnenden Umschichtungen in den zyklischen Industrie-Sektor gekennzeichnet ist.
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