«Die Täuschung geht immer weiter als der Verdacht.» Francois de La Rochefoucauld, 1613-1680, Diplomat, Offizier, Literat
Das waren noch Zeiten, als die Medienhäuser die Wahrheit und auch ihre Hintergründe suchten. Ziel war es, ihren Lesern, Zuhörern und Zuschauern eine ausgewogene und hintergründige Berichterstattung zu den Themen der Zeit zu liefern. Auf dieser pluralistischen Basis war auch die politische Meinungs- und Willensbildung ein wesentlicher Prozess in der demokratischen Gesellschaft. Doch das hat sich geändert. Unkritische mediale Gleichförmigkeit führt aber gerade auch in der Wirtschaft und an der Börse zu gefährlichen Fehleinschätzungen und auch Fehlallokationen.
Glaubt man der allgemeinen Berichterstattung, dann sind wir längst auf bestem Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft. Die Natur wird geschont und sogar renaturiert. Müllaufkommen, Wasser- und Energieverbrauch sind rückläufig, und die CO2-Neutralität ist fast schon greifbar – so die allgemeinen Marketingbotschaften. Doch nichts könnte ferner von der Wahrheit sein. Viele «Erfolge» mit Blick auf die Klimabilanz sind schöngefärbt oder ihre Berechnungsformeln sind hochgradig korrumpiert.
Geisterflüge in der Pandemie
Ein Beispiel sind die «Geisterflüge» seit Beginn der Pandemie. Eigentlich ein ergiebiges Thema für Medien. Von Anfang der Pandemie an ging die Branche von einer raschen Erholung der Passagierzahlen aus. Sämtliche Prognosen seit dem zweiten Quartal 2020 zeigen allenfalls marginale Änderungen zu den Prä-Covid-Prognosen. Selbst jetzt, zwei Jahre nach dem ersten Auftreten der Pandemie, bewegen sich die Passagierzahlen z.B. am Flughafen Zürich gerade einmal bei 50% des Vor-Covid-Levels. Das sorgt immerhin für weniger Emissionen durch den Flugzeugverkehr, sollte man meinen. In Wahrheit finden aber Zehntausende von Geisterflügen in Europa statt. Das heisst, Flugzeuge ohne Passagiere oder mit weniger als 10% Auslastung fliegen von A nach B – ohne wirtschaftlichen Grund.
Das Reglement der Flughäfen sieht aber vor, dass Landerechte, auch «slots» genannt, in der Regel zu mindestens 80% ausgeübt werden müssen, sonst gehen sie verloren. Diese Regel war zwar zunächst ausgesetzt, aber im Oktober 2021 zu 50% wieder aktiviert worden. Doch an der Frequenz der Geisterflüge hat sich zwischenzeitlich wenig geändert.
Wer ist für die skandalösen Geisterflüge verantwortlich?
Zwischen März 2020 und September 2021 gab es von den fünf wichtigsten Flughäfen auf den britischen Inseln 15’000 Geisterflüge! Erst im Januar 2022 räumte die Lufthansa ein, dass sie allein über den letzten Winter bis März wohl 18’000 Geisterflüge durchgeführt haben wird! Die Anzahl der Geisterflüge wird jedoch nicht offiziell erfasst und bekannt gemacht. Dies fällt in die Hoheit der Regierungen, die trotz Protesten und Petitionen bislang keine Transparenz für die Öffentlichkeit herstellen. Dabei sind Flüge als Kategorie die wohl gravierendsten CO2-Emittenten überhaupt. Viele Konsumenten und Geschäftsleute reduzieren oder streichen Flüge, um ihren Anteil zur Rettung des Klimas beizutragen. Doch das scheint weder die Regierungen, die sich gerne als Nachhaltigkeits-Champions inszenieren, noch die Medien zu interessieren. Dabei wäre es ja gerade die Aufgabe der Medien, ihre Funktion als vierte Macht in der Demokratie auch auszuüben. Die seltsame Kumpanei zwischen Politik und Medien im Übersehen der Geisterflüge-Thematik sollte zumindest sensibilisieren.
Effizienzfragen bei Kompensationsschemata
Wenn dies ein Einzelfall wäre, wäre es schon schlimm genug. Doch dem ist nicht so. Vielmehr ist es nur ein Beispiel von vielen. Bei näherer Betrachtung finden sich zahlreiche weitere dubiose Praktiken, mit denen Konsumenten, Wählern und Anlegern Sand in die Augen gestreut wird. Ein weitverbreitetes Beispiel ist die Kompensation der CO2-Emissionen durch das Pflanzen von Bäumen irgendwo in der Welt. So gut das theoretisch klingt, die Methodologie ist fehlerhaft. Zwar ist die Bildung und Bindung von CO2 eine globale Angelegenheit, unabhängig von Grenzziehungen. Doch wird rechnerisch so getan, als ob ein frisch gepflanztes Bäumchen so viel CO2 bindet wie ein ausgewachsener Baum – eine krasse Fehlkalkulation. Dazu kommt, dass viele der neu gepflanzten Bäume missraten, austrocknen, weggespült, von Schädlingen befallen oder gefressen werden. Nach manchen Studien sind bis zu 85% als Ausfälle zu zählen. Die Zertifikate gibt es aber dennoch, und die geben den kompensierenden Unternehmen, deren Mitarbeitenden, Kunden und Investoren ein gutes Gefühl des verantwortungsvollen Handelns. Ein gewaltiger Trugschluss.
Intransparente Scheintransparenz
Das Carbon Disclosure Project (CDP) geniesst einen hervorragenden Ruf und schafft Transparenz bei der CO2-Bilanz der Unternehmen. So weit, so gut. Durch das CDP wurde auch zweifellos das Bewusstsein von Unternehmen und Öffentlichkeit für die schädlichen und unkontrolliert steigenden Emissionen geweckt und geschärft. Tatsächlich scheint aber die Methodologie äusserst fragwürdig. So berichtet das Mode-Unternehmen Nike im Nachhaltigkeitsbericht 2020, dass die CO2-Emissionen im Geschäftsjahr 2019 um 5% gefallen sind. Die Berechnung geht so, dass die Veränderungsrate der Emissionen ins Verhältnis zur Umsatzveränderung gesetzt wird. Der Umsatz nahm um 7% zu, die Emissionen um 1%. Das Ergebnis ist, dass die Emissionen relativ zum Umsatz um 5% rückläufig sind. Entsprechend den Protokollen von CDP ist diese Art der Darstellung möglich – und durchaus auch üblich. In der Öffentlichkeit muss vor allem in Folge des Nachhaltigkeitsmarketings des Emittenten der Eindruck entstehen, dass Nike ein Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel ist. Doch tatsächlich werden Jahr für Jahr mehr Treibhausgase ausgestossen. Trotzdem erhält Nike hervorragende ESG-Ratings?
Fakten vs. Nachhaltigkeitsmarketing
Die Modebranche ist für rund 10% der CO2-Emissionen verantwortlich und deshalb auch verstärkt in die Kritik geraten. Ein «grünes» Image ist daher überlebensnotwendig, denn die Konsumenten wollen nachhaltige Materialien, saubere Lieferketten und sogar Recyclingtextilien. Viele junge und auch traditionsreiche Unternehmen erkennen die Änderung der Nachfragetrends und verwenden nachhaltige Materialien, Wolle aus den Alpen und nicht aus Australien etc. Doch Namen wie Nike oder H&M, die sich obengenannter Praxis bedienen, zählen nicht zu den glaubwürdigen Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit.
Scope-3-Emissionen im Fokus
Ein wichtiger Grund für die Glaubwürdigkeit von Unternehmen bei der Erreichung der Net-Zero-Ziele ist die Erfassung und transparente Publikation aller Emissionen, für die das Unternehmen verantwortlich ist. Dies umfasst nach heutiger Methodik drei Arten. Die selbst verursachten Treibhausgase, die Scope 1 genannt werden. Weiterhin die Emissionen, die durch den Energieverbrauch, je nach Quellen, entstehen, das sind die Scope-2-Emissionen. Unter Scope 3 werden weiterhin all jene Emissionen verstanden, die entlang der gesamten Wertschöpfungskette bei Lieferanten, Verbrauchern, im Transport oder auch bei Geschäftsflügen entstehen. Je nach Industrie können die Scope-3-Emissionen die mit Abstand grössten sein, etwa in der Modeindustrie, mit ihren globalen Liefer- und Verarbeitungsketten. Diese werden jedoch von den meisten Unternehmen nicht erfasst und veröffentlicht.
Rio Tinto und das Net-Zero-Ziel?
So auch in der Bergbauindustrie. Bei der Hauptversammlung des Minen-Giganten Rio Tinto kam es genau aus diesem Grund zum Eklat. Unter Führung der Schweizer Bank Sarasin stimmten die Aktionäre gegen die finanziellen Statements, weil unklar bleibt, wie Rio Tinto die Risiken des Klimawandels adressiert. Sarasin stimmte auch gegen die Beibehaltung von KPMG als Wirtschaftsprüfer und hinterfragte die Performance des Audit Committees. Im Wesentlichen geht es um die Weigerung von Rio Tinto, die Scope-3-Emissionen zu erfassen, beispielsweise bei der geförderten Kohle, die in den Stahlwerken in Japan oder Südkorea verbrannt wird. 95% der Rio-Tinto-Emissionen fallen aber unter die Kategorie Scope 3! Trotz der verbalen Net-Zero-Ziele von Rio Tinto will der Konzern bis 2045 Kohle verkaufen und die Aktionäre weiterhin durch hohe Dividenden bei der Stange halten. Im Kursverlauf zeichnet sich jedoch schon länger ab, dass die Bewertung unter dem Eindruck wesentlicher Risiken zu leiden hat. Trotz hoher Dividenden fehlt es an Dynamik. Das Hoch von 2007 scheint in weiter Ferne.
Propaganda und Gegenpropaganda
Ist schon beim Management der Pandemie unter dem Druck von populistischen Politikern, Bewegungen und Medien die Vernunft und die Wahrheit in weiten Teilen auf der Strecke geblieben, so hat sich die Gleichschaltung seit Beginn des Ukraine-Krieges nochmals verschärft. Wenn schon in Kindergärten und Grundschulen Plakate angebracht sind, auf denen in krakeliger Kinderschrift «Böser Putin» steht, so kann das nur das Werk der Gegenpropaganda sein, denn Siebenjährige können das Geschehen kaum beurteilen. Die Gefahr scheint vielmehr, dass eine neue Generation von Anhängern der Erbfeind-Theorie herangezüchtet werden.
Neue NATO-Beitrittskandidaten
Und wenn die Mehrheit der Bevölkerung vorgeblich neutraler Staaten wie Schweden und Finnland nun plötzlich der NATO beitreten will, so ist das genau die Art von Reaktion, die den Konflikt unnötig erweitert. Beide Länder sind bekanntermassen seit 1945 von KGB und FSB unterwandert, und die Nähe zur NATO ist kontinuierlich gewachsen, sodass ein offizieller Beitritt de facto kaum noch einen Unterschied macht. Es ist genau diese Art von Säbelrasseln, die im vergangenen Jahrhundert zu zwei desaströsen Kriegen in Europa geführt hat. Eine kluge De-Eskalationspolitik sieht anders aus als das, was Biden, von der Leyen, Stoltenberg & Co. derzeit liefern. Und eine differenzierte und hintergründige Berichterstattung würde auch zu einer Meinungs- und Willensbildung beitragen, die von Vernunft geprägt wäre und nicht von Stereotypien, alten Feindbildern und Hurra-Patriotismus.
Überprüfung der Annahmen
Propaganda, Wirklichkeitsverzerrung und einseitige Perspektiven sind im Wirtschafts- und Investmentgeschehen der Feind eines jeden Akteurs. Wer sich auf einmal getroffene Annahmen stützt und diese, koste es, was es wolle, durchzieht, steht nicht selten am Ende vor einem Scherbenhaufen. Der wäre meist vermeidbar, wenn nur die eigenen Annahmen kritisch überprüft werden würden und den veränderten Bedingungen angepasst. Das gilt insbesondere für kritische Bereiche wie die Standortfrage. Im Zeitalter der Globalisierung konnte es nicht weit genug weg sein, um Lohnkosten zu sparen – Osteuropa, Indonesien, China, Vietnam. Transportkosten fielen kaum ins Gewicht. Inzwischen sind die Löhne in vielen dieser Länder stark gestiegen – und die Transportkosten sind zuletzt explodiert. Zudem fehlen viele Rohstoffe – und deren Kosten steigen exorbitant. Vielfach sind die Verfügbarkeiten so eingeschränkt, dass die Produktion ausgesetzt oder reduziert werden muss. Ein «perfekter Sturm»!
Investment-Hypothesen und veränderte Marktbedingungen
Gut geführte Unternehmen sind davon weniger betroffen, wie ja schon die Jahresabschlüsse für die Pandemiejahre 2020 und 2021 zeigen. Umsichtige Planung, ein funktionierendes Risiko-Management, opportunistische Lagerbewirtschaftung, eine solide Bilanz und ein flexibler Multiple-Sources-Ansatz bei Lieferanten und in der Beschaffung sind Charakteristika resilienter Unternehmen. Deren Aktien halten sich auch besser als die von einseitig ausgerichteten, kurzfristig finanzierten und orientierten Konkurrenten. Der Strukturwandel wird sich durch das neue Bedrohungs- und Konfliktszenario mit einer Beschleunigung der vielfältigen Änderungen in der Wirtschaft abspielen. Die Chancen und Risiken der Investoren bestehen darin, die Gewinner von den Verlierern unterscheiden zu können. Viele Investment-Hypothesen der vergangenen Jahre sind teilweise vorübergehend, teilweise dauerhaft aufgegangen, beispielsweise die zur Outperformance der «stay at home»-Aktien. Doch andere haben sich auch nicht erfüllt oder stehen angesichts der veränderten Marktbedingungen vor beträchtlichen Hürden, wie etwa rohstoffabhängige Industrien, wegen der explosiv gestiegenen Preise und geringen Verfügbarkeiten. Andere stehen vor technischen Schwierigkeiten, die den Fortgang der Kommerzialisierung seit 10 Jahren behindern, wie etwa bei Drohnen.
Es wäre daher zu wünschen, dass die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik, aber auch jeder Einzelne sich die Maxime von de La Rochefoucault zu Herzen nähme: «Niemand ist so klug, dass er alles Unheil erkennen könnte, welches er anrichtet.»