Gefallene Engel II: Qualitätsaktien zu Ausverkaufspreisen?

VAT, Interroll, Belimo und Bossard im Check

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Das Wunderbare an der Börse ist das lebendige Auf und Ab der Kurse. Wie eine Fieberkurve zeigen die Kurse, wann die Einschätzungen der Marktteilnehmer angepasst werden, wo sich Hoffnungen erfüllt haben oder die Euphorie die Kurse zu weit nach oben getrieben hatte. Der Ausverkauf der letzten Monate ist vielsagend. Insbesondere bei Qualitätsaktien ist ein wieder attraktiveres Bewertungsniveau hergestellt. Doch ist es auch schon ein Einstiegsniveau?

Die Situation erinnert in vielem an den Ausverkauf während des Jahres 2018. Davor hatten sich die Aktien von Bossard, LEM, Comet und weiteren Schweizer Top-Valoren innerhalb von 2, 3 Jahren mehr als verdoppelt. Die Euphorie kannte keine Grenzen, und ebenso wenig kannten die Bewertungen zunächst scheinbar kein Limit. KGVs von 30 und mehr störten in der Hausse niemand. Es kam, wie es kommen musste. Die nachfolgende Korrektur liess die Aktienkurse der Börsenlieblinge bis Anfang 2019 um 50% oder mehr purzeln.

Wiederkehr des Gleichen?

Im Januar 2019 wurde in dem Artikel „Gefallene Engel: Bei welchen Crash-Aktien bestehen Erholungschancen?“ untersucht, was die Gründe für den Höllensturz an der Börse waren und welche Aktien ihre Kletterpartie mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder aufnehmen würden. Die Auswahl damals bestand aus Comet, LEM und Bossard. Alle drei Aktien taten sich zwar im Jahresverlauf 2019 nicht ganz leicht, setzten jedoch spätestens nach dem Frühjahrsausverkauf 2020 zu einem wahren Höhenflug an, der die Kurse erneut auf ein Vielfaches ihres Ausgangsniveaus klettern liess.

Veränderte Bedingungen

Handelt es sich also um ein déjà-vu? Ist es so einfach, dass es genügt, dieselben einmal ausgewählten Aktien nach 50% Kurskorrektur blind zu kaufen? Eher nicht. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, das hatte schon Heraklit erkannt. Alles ändert sich. Im Gegensatz zu Anfang 2019 haben Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation und Zinsanstieg das Kapitalmarktumfeld weitgehend mit neuen Marktbedingungen versehen. Der Aufwind durch QE und Tiefzinspolitik fällt nicht nur weg, sondern verkehrt sich ins Gegenteil. Die Fed wird ihre 9-Billionen-USD-Bilanz mit Sicherheit in den nächsten 2, 3 Jahren um 3 Billionen USD abbauen. Und die Leitzinsen werden wohl weiterhin erhöht, um die zunehmend aus dem Ruder laufende Inflation zu bekämpfen. Auch wenn dies in der Schweiz als Folge des starken Frankens weniger bedeutsam scheint, für den Rest der Welt gibt die Fed den Takt vor. Auf Dauer wird sich auch die SNB Zinserhöhungen nicht verschliessen können.

Rezessionssignale

Obwohl vieles an den Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Aktienperformance an der Börse gleichgeblieben ist, so haben sich doch etliche Input-Faktoren gewandelt. Nicht jedes Unternehmen kann die Preise so erhöhen, wie es notwendig wäre, um die Gewinnspannen auf dem gewohnten Niveau zu halten oder sie gar zu steigern. Durch die hohen Preise für Energie und Rohstoffe sind manche Produkte weniger gefragt, weil die Kaufkraft schwindet. Wegen der Transport- und Lieferengpässe können manche Unternehmen gar nicht so viel produzieren, wie es der Auftragsbestand hergeben würde. All diese Makro-Faktoren schlagen sich in unterschiedlichem Ausmass auf die Unternehmen nieder. Ein frühes Rezessionssignal sendeten die Einzelhandelsunternehmen in den USA, die in ihren aktuellen Berichten schwache Nachfrage, vor allem für langlebige Konsumgüter, und kollabierende Gewinne melden. Die Target-Aktie fiel um 25% an einem Tag, der schärfste Einbruch seit Jahrzehnten.

Rezessionsangst: Mit der Aktie der Target Group ging es rasant bergab. Chart: money-net.ch
Halbleitermarkt in strukturellem Wachstum

Zu den nahezu gesicherten Erkenntnissen seit Auftreten der Pandemie zählt, dass Halbleiter für nahezu jedes technologisch geprägte Produkt unverzichtbar geworden sind. Die Wartezeiten liegen gegenwärtig bei 1 Jahr, gegenüber «normalerweisez einigen Wochen. Zwar ist gerade die Chip-Industrie für ihre brutalen Schweinezyklen bekannt: Überinvestment im Boom – Preisverfall durch Überversorgung – Investitionsstopp – Knappheit und Nachfrageüberhang … und dann wieder alles von vorne, doch etwas hat sich geändert an der Natur des Halbleitermarktes. Chips sind nicht mehr nur für Computer und Hightech-Anwendungen erforderlich, sondern sind unverzichtbar in jedem Telefon, jeder Waschmaschine, jedem Auto. Somit geht es nicht mehr um das zyklische Auf und Ab der Nachfrage von bestimmten Hochtechnologie-Industrien, sondern um strukturelles Wachstum, das von inzwischen fast allen Industrien getragen wird.

Weltmarktführer VAT

Am Schweizer Aktienmarkt findet sich mit VAT ein Zulieferer der Halbleiter-Industrie, der über zahlreiche Alleinstellungsmerkmale verfügt. Der Weltmarktanteil im Bereich Vakuum-Ventile erreicht in der Halbleiterindustrie 75%. Die Erfolgsgeschichte seit dem IPO 2016 ist den Anlegern wohlbekannt. Trotz der Korrektur der letzten Monate liegt die Aktie noch mehr als 800% über dem Ausgabepreis. VAT war in der Hausse eine Ausnahme-Aktie, die dem Markt vorauseilte und zum Börsenliebling avancierte. Vom Tief im März 2020 bis November 2021 lag der Anstieg bei nahezu 400%. Entsprechend heftig fiel nun der Abschwung aus. Der deckt sich zeitlich mit dem der Aktien der eigentlichen Produzenten von Chips.

Die VAT-Aktie korrigierte in den letzten Wochen stark. Chart: money-net.ch
Nachfrageboom

Noch ist der Abwärtstrend der Aktie nicht gebrochen, doch das ist eine Frage der Zeit. Der Auftragseingang stieg 2021 um 69%, der Gewinn um 70%. Bei einem hohen Auftragsbestand und der fortgesetzt starken Bestelldynamik hat die Gesellschaft in der Mittelfrist-Guidance das Umsatzziel für 2025 von 1.1 Mrd. CHF auf 1.5 Mrd. CHF angehoben. Die EBITDA-Marge bewegt sich um die 35% und könnte auf 37% steigen. Die Vakuum-Technologie findet zudem neue Anwendungsfelder in der Produktion von Solarmodulen und LCD-Displays, von Batterien für die E-Mobility und von fortgeschrittenen wissenschaftlichen Instrumenten. Das sind allesamt Wachstumsindustrien – und die VAT-Technologie ist unverzichtbar.

Attraktive Perspektiven

Bezogen auf den 2021 erzielten Gewinn je Aktie von 7.25 CHF errechnet sich bei einem Kurs von 270 CHF ein historisches KGV von 37. Setzt sich jedoch die Gewinndynamik fort, fällt es spätestens mit Blick auf 2023 in den tiefen 20er Bereich. In einer Welt, die von Margenkompression und Nachfrageschwäche gekennzeichnet ist, ragt VAT mit überaus soliden Fundamentals heraus. Die Aktie wird umso attraktiver, als die Schwierigkeiten für die Mehrheit der Unternehmen zunehmen. Mit jedem weiteren Tag Krieg verschlechtern sich die allgemeinen Wachstumsprognosen. Den Unsicherheiten Rechnung tragend, empfiehlt sich für langfristig orientierte Investoren bei VAT ein gestaffelter Einstieg.

Belimo auf Kaufniveau?

Ähnlich präsentiert sich der Chartverlauf von Belimo. Vom Tief im März 2020 bei 250 CHF stieg die Aktie bis auf 580 CHF Anfang Januar 2022. Inzwischen liess der Abverkauf Belimo auf 360 CHF purzeln. Auch Belimo ist eine Ausnahme-Aktie, denn das Unternehmen wächst in seiner Nische seit Jahren mit hohem Tempo. Dabei hält der Innovationsführer die Margen hoch. Im Geschäftsjahr 2021 nahm der Umsatz um 15,7% zu, der Reingewinn stieg um 33,3%. Die Nettogewinnmarge erhöhte sich um 2 Prozentpunkte auf 15,1%. Die Eigenkapitalrendite stieg auf 23,1%, einen neuen Rekordwert.

Die jüngste Korrektur setzte auch der Belimo-Aktie zu. Chart: money-net.ch
Wachstumsraten beschleunigen sich

Trotz der Korrektur beträgt das KGV 2021 noch immer 40. Zu den guten Gründen für ein Engagement zählen der erfolgreiche Einstieg in den Sensormarkt 2021 und damit in ein drittes Geschäftsfeld sowie die Beschleunigung des Umsatzwachstums von jährlich 5,7% im Zeitraum 2011-2016 auf 8,8% im nachfolgenden Fünfjahreszeitraum bis 2021. Durch die verschärften Ansprüche an Energieeffizienz und CO2-Reduzierung in Gebäuden ist nun zu erwarten, dass das Wachstumstempo nochmals deutlich gesteigert wird. Während in Europa der Facharbeitermangel bei den Belimo-Kunden als Wachstumsbremse wirkt, locken neue Märkte wie Sensoren und Smart Meter sowie Länder wie Indien, China und USA mit ihrer starken Nachfrage nach innovativen effizienzsteigernden Produkten, wie sie Belimo liefern kann.

Einstiegschance bei Interroll?

Und auch Interroll, ein weiterer Leader der Hausse am Schweizer Aktienmarkt bis November 2021, ist seitdem tief gestürzt. Vom Tief im März 2020 war die Aktie um 300% auf 4 800 CHF geschossen, aktuell ist bei Kursen um 2600 CHF noch keine Bodenbildung zu erkennen. Das steht im Kontrast zu den für 2021 gemeldeten Zahlen und dem zuversichtlichen Ausblick. Der Umsatz stieg um 20,6%, der Gewinn um 12,3% und der Auftragseingang um 43,9%. Die Nettogewinnmarge von 12,6% ist beachtlich, ebenfalls die Eigenkapitalrendite von 24,5%. Als Innovationsführer profitiert Interroll vom Streben der Kunden nach effizienteren intralogistischen Lösungen, darunter Industrieadressen wie Bosch, Siemens und Nestlé, aber auch der E-Commerce Gigant Amazon und Einzelhändler wie Walmart. Bei Interroll bewegt sich das KGV 2021 auf aktuellem Kursniveau bei 26. Vor gut einem Jahr hat der neue CEO das Ruder übernommen. Soweit stimmt der Kurs, den er verfolgt.

Der Chart von Interroll lässt noch kein Ende des Abwärtstrends erkennen. Chart: money-net.ch
Bossard – Experte für Effizienz- und Produktivitätssteigerungen

Dass Bossard wiederum bei den „Gefallenen Engeln“ auftaucht, ist eigentlich wenig verwunderlich. Unternehmenszweck ist die Steigerung von Effizienz und Produktivität der Kunden. Durch Kompetenz in Engineering- und Logistikdienstleistungen werden insbesondere Prozesse optimiert und die Lagerhaltung reduziert. Bossard ist Spezialist für Konzeption und Aufbau intelligenter Produktionsstätten und daher gefragt, wenn es um neue Fabriken geht, die durch das Near-Shoring und die Produktionsverlagerung als Folge des Ukraine-Konflikts geplant und errichtet werden. Auch im ersten Quartal 2022 setzte sich das starke Wachstum fort, der Umsatz kletterte um 19,1%. In 2021 war der Konzerngewinn um 44,7% angestiegen. In allen Regionen fiel das Wachstum zweistellig aus. Die Nachfrage konzentriert sich weiterhin auf die Zukunftsindustrien Elektromobilität, Elektronik, Automation und Maschinenbau. Bei Bossard ist das KGV 2021 von 26 am Bilanzstichtag 31.12.2021 auf aktuell 15 gefallen. Der Aktienkurs hat sich in den ersten Monaten des Jahres von 330 CHF auf aktuell 192 CHF vermindert. Auch hier spricht vieles dafür, dass der langfristige Aufwärtstrend Bestand hat, wenn auch kurzfristig noch nichts auf eine Trendwende zum Besseren hinweist.

Auch die Aktie von Bossard gehörte in den vergangenen Monaten zu den „Gefallenen Engeln“. Chart: money-net.ch
Fazit

Nach dem jahrelangen und oft zitierten «Anlagenotstand» hat sich das Kapitalmarktumfeld nun innerhalb weniger Monate gravierend geändert. Die allgemein totgeglaubte Inflation hat sich plötzlich als sehr lebendig erwiesen. Das hat auch die Zinslandschaft nicht unberührt gelassen. Sowohl Inflations- als auch Zinserwartungen steigen und setzen damit den Aktienmärkten zu. Vor allem hochbewertete Aktien, also die Börsenlieblinge der Hausse-Phase, werden abverkauft, auch um Kursgewinne glattzustellen. Dieser Prozess kann sich noch länger fortsetzen und die Kurse der hier vorgestellten «Gefallenen Engel» noch weiter sinken lassen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Investoren weiterhin ihre Fonds- und ETF-Anteile abstossen und diese durch Aktienverkäufe Kapital für Rückzahlungen beschaffen müssen.

Unabhängig vom momentanen Abwärtstrend und der eingetrübten Stimmung ist jedoch festzustellen, dass die Aktien der ausgesuchten Marktführer innerhalb der letzten sechs Monate sehr viel günstiger geworden sind. Für Investoren mit langfristigem Horizont sind weiterhin die Aktien von wachstums- und gewinnstarken Unternehmen interessant. Und die kosten nun nur noch die Hälfte im Vergleich zu vor sechs Monaten. Man sollte zwar nicht unbedingt voll ins fallende Messer greifen, aber die Gefallenen Engel gehören auf jeden Fall auf den Radarschirm. In unsicheren Situationen wie derzeit sind meist gestaffelte Käufe über einen längeren Zeitraum die beste Lösung.

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