Macro Perspective: Kollektive Irrtümer und Fehlallokationen

Preissignale und Frühindikatoren verweisen auf zukünftige Domino-Effekte

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Laden statt Tanken – auch in China im Vormarsch. Bild: stock.adobe.com

«Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.» Otto von Bismarck, 1815-1898, Staatsmann und Politiker

Immer dann, wenn sich alle einig sind und nur noch eine Version oder Meinung gilt, ist für Investoren Vorsicht angebracht. Mit der Herde zu rennen, hat noch selten zu guten Ergebnissen geführt. Glaube und Hoffnung mögen in schwierigen Situationen zwar durchaus hilfreich sein, doch an der Börse sind sie in aller Regel tödlich. Gesunder Menschenverstand, kühle Analytik und Psychologie führen dagegen in aller Regel zu besseren Ergebnissen.

Prozyklisches Anlageverhalten ist nach aller Erfahrung ein Phänomen der Massenpsychologie. Wenn die Kurse oder Preise von Spekulationsobjekten nur lange genug oder schnell genug gestiegen sind, erwacht das Interesse breiter Bevölkerungskreise – dabei sein ist alles. «Fear of Missing Out» oder kurz FOMO wird das heute genannt, ist aber im Grunde nichts Neues. So war es Ende der 1990er-Jahre bis 2001, davor 1987, aber auch schon 1929 oder im 19. Jahrhundert bei legendären Spekulationen wie der Mississippi-Blase oder den Eisenbahnen.

Auf Gier und Neid folgen Verluste

Es ist die Gier oder auch der Neid, der angesichts der leichten Gewinne der anderen alle sonst gültigen Vorsichtsmassnahmen und Prüfverfahren ausser Kraft setzt. Das zeigt sich besonders deutlich beim Krypto-Thema. Selbst Finanzexperten sind sich über den wahren Charakter der Krypto-Währungen nicht einig. Handelt es sich um Geld, um ein Zahlungsmittel, ein Anlagemedium, einen Rohstoff oder einen kriminellen Sumpf, der hauptsächlich von Betrügern, Erpressern, Bestechlichen und Schwarzhändlern am Leben gehalten wird? Am Ende hat sich in den vergangenen Monaten deutlich gezeigt, dass die Kryptos aus Anlegersicht auf jeden Fall vieles von dem Zugeschriebenen nicht sind, z.B. ein «Store of Value». Dennoch, so zeigen aktuelle Umfragen, haben Millionen Anleger in aller Welt, und auch in der Schweiz, beachtliche Summen und manchmal bedeutende Anteile des Vermögens in Kryptos gesteckt. Zur Jahreswende hatte das Krypto-Universum noch ein Volumen von über 3 Billionen USD, aktuell sind es weniger als 1 Billion. USD.

Der Bitcoin fährt Richtung Süden. Chart: money-net.ch
Stress und Zwangsliquidationen im Krypto-Universum

Der Sektor ist auch lehrreich mit Blick auf Liquidität und Konsequenzen der Illiquidität. Schon seit Jahren finden an den Krypto-Handelsplätzen die grössten Preisveränderungen an den Wochenenden statt, während regulierte Börsen an Samstagen und Sonntagen ruhen. Der 24/7-Betrieb war somit stets auch eine Einladung zur Kursmanipulation über die Wochenenden. Wenn es so schnell und in so grossen Schritten abwärts geht wie derzeit, kommt mitunter die Handelsinfrastruktur und -technik nicht nach. Mal sind es Server-Ausfälle, mal gibt es keine Nachfrage auf dem gegebenen Preisniveau. Tatsache ist, dass viele Anlagevehikel die Rückzahlungen ausgesetzt haben, weil sie die Krypto-Assets nicht zu Marktpreisen verkaufen können. Und das bedeutet Stress im System. Den wiederum können die Notenbanken bei der Aufrechterhaltung geordneter Marktverhältnisse nicht brauchen.

Der durch die Marktverwerfungen ausgelöste Stress wirkt auch auf die anderen Märkte. Da die Aktienmärkte aber sehr viel liquider sind, zeigen sich die Stress-Symptome eher noch vereinzelt und erst bei genauerem Hinschauen. Bei den Schweizer Small- und Mid-Caps lohnt es sich beispielsweise, die grösseren Kursbewegungen mit den tatsächlichen Aktienumsätzen zu vergleichen. Oft sind es nur einige wenige Aktien, die dafür verantwortlich sind.

Talfahrt der Immobilienaktien nach SNB-Entscheid

Deutlicher noch wird es beim Immobilien-Thema. Der jahrelange Boom der Preise bei anhaltender Tiefzinspolitik hat ein Mirakel geschaffen, an das scheinbar alle geglaubt haben. Bis vor kurzem waren Inflationserwartungen und Zinserhöhungsfantasie praktisch nicht existent. Mietrendite und Preisentwicklung der Immobilien wurden einfach weiter extrapoliert – und jeder Immobilienbesitzer konnte sich so reich rechnen. Seit dem SNB-Zinsentscheid diesen Monat sieht die schöne Immobilien-Welt der Anleger jedoch anders aus. Nicht nur die Immobilienaktien beschleunigten ihre Talfahrt, sondern auch die Aktie des grössten Immobilienbesitzers in der Schweiz, Swiss Life. Noch im April lag die Aktie am Hoch bei 630 CHF – und stürzte dann um fast 30% auf 450 CHF. Die gesamten Kursgewinne des letzten Jahres sind damit ausradiert. Damit ist die Schweiz jedoch nicht allein, alle wesentlichen Real Estate Indices befinden sich in einer rapiden Korrektur. Die deutsche Vonovia hat beispielsweise seit Jahresanfang von 48 Euro auf 30 Euro verloren. Mehr als 15 Mrd. Euro Market Cap haben sich so in Luft aufgelöst. Die gesamten Kursgewinne seit 2017 wurden preisgegeben.

Der SNB-Zinsentscheid spiegelt sich auch im Aktienkurs von Swiss Life wider. Chart: six-group.com
Milliardärsschicksale

Von den herben Verlusten an den Börsen sind nicht nur Kleinanleger und Vermögensverwalter betroffen, sondern auch die Superreichen. Der Kurssturz von Amazon verringerte laut Bloomberg das Vermögen des Grossaktionärs Jeff Bezos 2022 bisher um 65 Mrd. USD auf 127 Mrd. USD. Elon Musk verlor 73 Mrd. USD auf 197 Mrd. USD und Bernard Arnault 57 Mrd. USD auf 121 Mrd. USD. Der Unterschied zum Normalanleger besteht darin, dass es für die Unternehmer nicht an die Substanz geht, sondern höchstens den Aktionsradius etwas einschränkt. Insgesamt, so hat Bloomberg ermittelt, verloren die Mega-Milliardäre bis Mitte Juni 1.4 Billionen USD. Doch auf der anderen Seite hat die Hausse bei Energie und Nahrungsmitteln auch viele neue Milliardenvermögen entstehen lassen. Laut Oxfam sind zwischen März 2020 und März 2022 allein 62 neue «Food Billionaires» geschaffen worden. 12 Mitglieder der Cargill-Familie sind nun Milliardäre, vor der Pandemie waren es nur acht. Cargill ist Teil eines Oligopols, das 70% des globalen Getreidehandels kontrolliert.

Die Immobilienblase in China ist geplatzt

Auch der Blick nach China zeigt ein ähnliches Bild. Hier stehen allerdings Tech-Unternehmer und Immobilien-Tycoons schon seit längerem unter dem Druck der Regierung. Über den «crack-down» im Tech-Segment hatte die Macro Perspective bereits Ende 2020 berichtet. Inzwischen sieht auch der Immobiliensektor ganz anders aus. Die Krise um Evergrande und weitere Real-Estate-Entwickler hat Anpassungen des chronisch überhitzten Immobilienmarktes nach sich gezogen. Der chinesische Immobilienmarkt war im September 2021 Gegenstand der Macro Perspective. Schon seit 11 Monaten sind jetzt die Hausverkäufe rückläufig, die Preise fallen. Damit wird das Ziel der Regierung «erschwinglicher Wohnraum für alle» nähergebracht. Umgekehrt hat sich die Vermögenslage der inzwischen ungeliebten Immobilien-Milliardäre dramatisch gewandelt. Sie stellten den Grossteil der Superreichen in China, doch per Ende Mai 2022 sind laut Bloomberg allein bei den acht Reichsten die Nettovermögenswerte seit Anfang 2020 um 65% auf 61 Mrd. USD zusammengeschrumpft. Der Index der Immobilienaktien bewegt sich auf einem 5-Jahres-Tief. Der Sektor hatte rund 30% zum chinesischen BIP beigetragen und stand für 60% der privaten Vermögen. Das allerdings in einem Land, in dem es jahrzehntelang keine und erst seit kurzem wenige Anlagemöglichkeiten gab. Die Episode zeigt jedenfalls einmal mehr, dass auch ökonomische Rückschläge von der chinesischen Regierung in Kauf genommen werden, wenn prioritäre Ziele dies erfordern.

Wachsende Dominanz chinesischer E-Mobility-Innovatoren

Das sollte aber keine Zweifel an der Schlagkraft der langfristigen Strategie der Wirtschaft Chinas aufkommen lassen. Ein sehr gutes Beispiel bietet der Automobilmarkt. Noch bis vor kurzem hatten westliche Hersteller wie VW, BMW, Tesla und GM eine hervorragende Position am schnellsten wachsenden Automobilmarkt der Welt. Allein die vier genannten Markenkonzerne kamen auf gut 50% Marktanteil, und westliche Konzerne insgesamt auf über 60%. Zeichnete sich bereits 2021 ein struktureller Wandel ab, so hat sich dieser seit Jahresbeginn kräftig beschleunigt. Die Anzahl der 2022 in China neu zugelassenen Elektromobile und Hybrid-Autos hat sich bis April gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf 1.5 Mio. Stück verdoppelt. Der Marktanteil erreicht im April nun 29%. Der Markt für mit Verbrennungsmotoren betriebene Fahrzeuge schrumpfte dagegen zweistellig.

Die 10 Top-Hybrid-Autos in China bis April 2022. Quelle: cleantechnica.com
E-Mobility «Made in China»

Und in dem am stärksten wachsenden Segment finden sich nahezu ausnahmslos chinesische Marken auf den Spitzenrängen. Unter den Top 10 war mit Tesla auf Rang 3 lediglich ein westlicher Hersteller vertreten. VW rutschte auf Rang 15. In der Gesamtstatistik sank der Marktanteil westlicher Hersteller in den ersten vier Monaten des Jahres auf 52% und im April auf 43%. Ein solch rapider Schwund im wichtigsten Markt der Welt wirft lange Schatten. Das globale Bild ist komplex. So sind die chinesischen Marken wie BYD, XPeng und Nio in Europa noch weitgehend unbekannt und die Marktanteile fast nicht erfassbar. Tatsächlich ist jedoch Norwegen der europäische Testmarkt. Die Mehrheitsbeteiligung des chinesischen Herstellers Geely an Volvo und deren gutes technologiebasiertes Image haben den chinesischen E-Mobilen einen guten Markteintritt verschafft – offensichtlich mit einigem Erfolg. Als nächstes ist der Eintritt in den deutschen Markt geplant.

Tesla, VW und der chinesische Markt

Während sich VW und Tesla verbale Schlachten liefern und mit Mega-Investitionsbeträgen in die Elektromobilität prahlen, könnte sich ihr Schicksal in China bereits entscheiden haben. Wegen Sicherheitsbedenken hat beispielsweise eine chinesische Provinz sämtliche Teslas von den Strassen verbannt. An den Börsenbewertungen lässt sich zwar einiges ablesen, aber noch nicht alles. Bei VW kommen die Vorzüge auf 29 Mrd. Euro Market Cap, bei Tesla sind es 763 Mrd. USD – halb so viel wie beim Höchstkurs im vergangenen Oktober. Die Bewertungsdifferenz von KGV 5 bei VW und KGV 85 bei Tesla erscheint wenig fundiert, handelt es sich doch im Grunde bei beiden um Hersteller von Automobilen.

Eine chinesische Provinz hat Teslas wegen Sicherheitsbedenken von den Strassen verbannt. Chart: money-net.ch

Gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich ist, dass die Chinesen nicht nur den eigenen Markt für E-Mobile dominieren werden, sondern auch den im Westen. Dann käme zu den sonstigen Krisen eine weitere existenzbedrohende hinzu. In Deutschland beispielsweise hängt ein bedeutender Anteil der Arbeitsplätze und der Steuereinnahmen von der Automobilindustrie und ihren Zulieferern ab.

Überschätzung, Überbewertung und Fehlallokation

Das gemeinsame Element von Tech, Krypto, Immobilien und Automobil ist die grenzenlose Überschätzung der Potenziale, der Bewertungen der entsprechenden Aktien und die verbreitete Annahme, dass die Entwicklungen während der Nullzins-Ära sich einfach weiter fortschreiben lassen. Dabei weisen die Preissignale an den Börsen und auch die realwirtschaftlichen Indikatoren auf einen anderen Verlauf hin. Der wird aber ignoriert, als ob sich mit dem scheinbar unerschöpflichen Kapital der Notenbanken und der Multimilliardäre alle Probleme leicht lösen lassen.

Paradigmenwechsel

Tatsächlich ist jedoch das System in vielfältiger Weise an seine Grenzen gestossen. Die globalen «Just-in Time»-Lieferketten sind zusammengebrochen. Angebot und Nachfrage halten sich bei vielen Rohstoffen und Energie nicht mehr die Waage, was zu Preissteigerungen führt. Diese sind in der entwickelten Welt zwar schmerzhaft, aber in den armen Ländern existenzbedrohend. Als der Weizenpreis das letzte Mal in die Höhe geschossen ist, 2008, folgten in vielen Ländern, vor allem im Nahen Osten, Hungeraufstände, die dann zum sogenannten «Arabischen Frühling» führten. Aus den Revolutionsbestrebungen wurde wenig, stattdessen herrschen Chaos wie in Libyen oder totalitäre Systeme wie in Syrien. In Südamerika haben als Folge der wachsenden Ungleichheit mit Chile und Kolumbien gleich zwei traditionell rechts regierte Länder nun linke Regierungen. Die Bedingungen für die Weltwirtschaft ändern sich schnell, neue Wirtschaftsräume entstehen, Krieg und Inflation erhöhen den Druck auf die Regierenden, die immer öfter abgewählt werden. Die Unsicherheiten und somit die Risiken haben für Investoren definitiv zugenommen. Die schlimmsten Fehler in der Kapitalallokation entstehen immer dann, wenn den kollektiven Annahmen gefolgt wird, obwohl diese nüchtern betrachtet unrealistisch sind.

Eine gesunde Skepsis ist nicht nur gegenüber der gleichgearteten Medienberichterstattung zu den Phänomenen unserer Zeit angebracht, sondern generell auch gegen Politiker und Entscheidungsträger. Wer überleben will, muss auch um die Ecke denken können. So sagt schon Bismarck: «Wenn irgendwo zwischen zwei Mächten ein noch so harmlos aussehender Pakt geschlossen wird, muss man sich sofort fragen, wer hier umgebracht werden soll.»

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