Macro Perspective: Energie-blind durch die «Weaponization of Energy»

Fixierung auf kurzfristige Energieversorgung verstellt den Blick auf das grosse Bild

0
3024
Die Gasversorgung von Europa stützte sich bisher zu einem grossen Teil auf Lieferungen aus Russland. Bild: theguardian.com; Michael Probst/AP

«Wir sind die hohlen Männer, die ausgestopften Männer, aneinander gelehnt, die Köpfe gefüllt mit Stroh.» Zitat aus The hollow Men. T.S. Eliot, 1888-1965, Literat

Über Energiepreise und die Versorgungssicherheit hat man sich in den letzten Jahren höchstens kurzfristig Gedanken gemacht. Alles an der Energieversorgung war, so schien es, prima und grösstenteils auch billig. Langfristige Projekte wie in der Schweiz die «Energiestrategie 2050» hatten die Weichen für die Dekarbonisierung und die Energiewende hin zu CO2-freien Energieformen gestellt. Doch selbst die schönsten Pläne helfen nicht, wenn plötzlich das Unerwartete geschieht: der Einsatz von Energie als Waffe oder neudeutsch die «Weaponization of Energy».

Wie kann es sein, dass der jetzt erklärte Gegner Russland ganz wesentlich die Energienachfrage in Europa befriedigt, und zwar in einem Ausmass, dass allein die Drohung, die Gaszufuhr zu stoppen, zu breiter Hysterie bei der Bevölkerung sowie Panik und blindem Aktionismus bei den Politikern führt? Anstatt die uferlosen Auslassungen der Regierenden ernst zu nehmen, hilft ein Blick auf die simplen Fakten. 1970 kam das erste Gas aus der Sowjetunion nach Deutschland, also noch im tiefsten Kalten Krieg. Dennoch wurde es im Rahmen der «Ostpolitik» als wesentlicher Schritt in eine konfliktfreiere Zukunft gesehen. Auf kritische Fragen damals gab es unter anderem die Antwort, dass die Energieversorgung diversifiziert bleibe und Gas aus der Sowjetunion nie mehr als 10% des nationalen Verbrauchs ausmachen werde.

Enorme Gas-Abhängigkeit von Russland

Doch die Quote stieg über die Jahrzehnte und sollte bis zuletzt durch Nord Stream 2 weiter erhöht werden. 2021 lag der Anteil von russischem Gas in Deutschland bei 55%, in Österreich bei 80% und in manchen Ländern wie Frankreich und Spanien auch unter 25%. Jetzt stürzt man sich in überall in Europa, aber besonders in Deutschland, kopflos in blinden Aktivismus. Erst wird dem nun «erklärten» Gegner Russland mit dem Stopp der Gaseinfuhren gedroht, dann, schneller als sich das die Technokraten in Berlin vorzustellen vermögen, sind die Vorzeichen umgekehrt: Russland droht mit dem Stopp der Lieferungen! Schon jetzt liefert Russland nur noch 35% des deutschen Gasverbrauchs. Wenn Nord Stream 1, wie angedeutet, weniger liefert, wird die Panikstimmung nochmals gesteigert. Tagaus, tagein wird auf einen «harten Winter», Einschränkungen, Preissteigerungen usw. hingewiesen.

Gas-Monomanie verdeckt tieferliegende Probleme

Insgesamt entsteht jedenfalls der Eindruck von Panik, nicht von Problemen, für die es Lösungen gibt. Die nationalen Diskussionen in Europa sind natürlich unterschiedlich. In Italien ist primär die Industrie betroffen, in Frankreich gibt es natürlich die Kernkraftwerke, von denen aber viele stillstehen, Spanien hat seinen Lieferanten Algerien verprellt, weil der Gegner Marokko im Konflikt um die West-Sahara spanische Unterstützung erhält. In der Schweiz spielen Wasserkraft und Speicherseen eine wesentliche Rolle, aber um Stromimporte kommt man dennoch nicht herum. Zudem bedeutet Wasserknappheit, dass weniger Strom produziert wird. Durch den niedrigen Wasserstand im Rhein zeichnet sich weiterhin ein Transport- und Versorgungsproblem ab.

Die Abhängigkeit von russischem Gas in Europa 2021. Grafik: theguardian.com
Grüne Politiker knicken ein

Die Scheinlösungen sind allgemein wenig überzeugend, vor allem, wenn man bedenkt, dass in vielen Ländern «grüne» Parteien an der Regierung beteiligt oder zumindest gewichtig im Parlament vertreten sind. Verhandlungen und Kniefälle vor autokratischen Herrschern wie in Katar, vor anderen Golfstaaten und weiteren fragwürdigen Lieferanten von fossilen Brennstoffen sind eindeutig das falsche Signal. Auch die gesteigerten Abnahmen von US-Flüssiggas (LNG) senden ein falsches Signal. LNG aus den USA heisst, dass das Gas nahezu vollständig durch Fracking gewonnen wurde. Die mehr als drei Dutzend toxischen Chemikalien, die ins Grundwasser sickern, schädigen nun die US-Bevölkerung. In Europa ist Fracking dagegen weitgehend verboten.

Öl-Embargo kontraproduktiv

Auch das Ölembargo gegen Russland wirkt kopflos und hat lediglich den Effekt, dass China nun mit einem Diskont einkauft und zum grössten Abnehmer von russischem Öl geworden ist. Auch Indien mit seinem Energiehunger nutzt den Vorteil und kauft günstig fossile Energien von Russland. Überraschen mag, dass auch Saudi-Arabien enorme Mengen von billigem Öl aus Russland bezieht. Dieses wird zur Erzeugung von Strom genutzt, während das eigene Öl weiterhin zu Top-Preisen am Markt verkauft wird. Weder strategisch noch ökonomisch bringt das Embargo dem Westen Vorteile. Im Gegenteil sogar, totalitäre Systeme wie in den genannten grossen Nachfrageländern, aber auch in etlichen afrikanischen Staaten scheren sich nicht um die Embargopolitik von NATO und EU. Somit werden den Russland-Verbündeten Vorteile ermöglicht, während bei denjenigen, die das Embargo verhängt haben, die Nachteile wie Energiepanik, Inflation und Rezession liegen.

Kriegsziel Ukraine – oder geht es doch um mehr?

Insgesamt verdichtet sich der Eindruck, dass es Russland weniger um Gebiete in der Ukraine geht als vielmehr darum, den Westen in seine selbst geschaffenen Fallsticke zu verwickeln und dadurch die relative Stärkeposition Russlands vs. EU und USA zu verbessern. Bereits die Pandemie hatte die Schwächen der westlichen Länder blossgelegt, und nach der unerwarteten russischen Invasion in der Ukraine sorgten die weiteren Konsequenzen in der Ost-West-Polarisierung wie Sanktionen und der Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem Swift für weitere Verwicklungen.

Klare Fronten – oder doch nicht?

Die Fronten sind nun klarer. So scheint es. Besonders Polen und die baltischen EU-Mitglieder vertreten eine harte Linie gegen Russland. Rumänien tut sich als ehemals besonders Moskau-nahes Land nun als NATO-Frontland hervor. Und Finnland und Schweden werden jetzt nach jahrzehntelanger «Neutralität» doch noch NATO-Mitglieder. Dass aber gerade über 650 einflussreiche Personen in der Ukraine, darunter der Chef des Inlandsgeheimdienstes und die Generalstaatsanwältin nun als «fünfte Kolonne» Moskaus enttarnt und inhaftiert wurden, zeigt einmal mehr, dass jede erfolgreiche Kriegführung auf Täuschung basiert. Spione und Agenten sind dabei von zentraler Bedeutung. Es zeigt aber auch, dass die gleichförmige Berichterstattung über den Ukrainekrieg nicht mehr als Gegenpropaganda ist, denn viel Zeit wurde beispielsweise durch die häufige und unkritische Berichterstattung zum nun abberufenen ukrainischen Botschafter in Berlin verschwendet.

Allianzen und Einflusssphären

Auch in der globalen Betrachtung ordnen sich die Linien neu. China und Russland sind Verbündete und etliche Länder mehr, darunter auch die Nuklearmächte Indien und Pakistan sowie der Iran. Zum direkten russischen Einflussgebiet zählen unter anderem die riesigen zentralasiatischen Länder, die zum Teil auch gewichtige Produzenten von Öl und Gas sind. Die Abhängigkeiten sind immer noch gross. Abgesehen von den Petro-Dollars, die hauptsächlich in Kasachstan ins Land strömen, ist trotz moderner Kulisse die Zeit gewissermassen stehengeblieben. Die Unabhängigkeit beim Zerfall der Sowjetunion kam über die zentralasiatischen Sowjetrepubliken wie ein Unfall. Die Sezession von der Sowjetunion sollten Volksabstimmungen entscheiden, doch dann kam das Ende der Ära Gorbatschow ganz schnell. Bis heute ist der Einfluss Russlands jedoch enorm, und es wird wohl nichts gegen den ausdrücklichen Wunsch Putins geschehen.

Oil forever

Der Westen hat die Chancen zur sukzessiven Gewinnung von Energie-Autarkie durch den Ausbau der Kapazitäten von CO2-freien Energieformen nicht oder zu spät und zu wenig zu nutzen gewusst. Es war ja soviel bequemer, Gas aus Russland, Öl aus Saudi-Arabien und eigene Kohle zu verbrennen. Die Klimafolgen werden zwar beklagt, und Konferenzen verabschieden vielversprechende Programme, doch tatsächlich hat sich wenig geändert bei der Förderung fossiler Brennstoffe. Sogar in der fragilen Arktis fördern russische und westliche Ölkonzerne durch Hunderte von Plattformen Öl und Gas. Die petrochemische Industrie investiert eine halbe Billion USD, um weitere Plastikberge zu produzieren, die dann grossenteils in der Landschaft oder den Gewässern und Ozeanen enden. 500 Jahre dauert es, bis eine PET-Flasche abgebaut ist. Dann kommt die Phase als Mikroplastik, die für Organismen noch gefährlicher ist und unter anderem die Fruchtbarkeit vieler Spezies, auch beim Menschen, zerstört.

Welche Energiewende?

Anstatt nun beschleunigt intelligente Energielösungen zu verfolgen, fallen reihenweise die Tabus: Kohlekraftwerke werden wieder in Betrieb genommen, Nukleare Energie wird gefordert und Öl und Gas erleben ein Revival. So erscheint es auch nicht zufällig, dass neue Hitzerekorde in weiten Teilen der Welt, nicht zuletzt in Europa für Schlagzeilen sorgen, ebenso wie der Gletscherbruch bei Bozen oder die verheerenden Brände in Portugal und Frankreich.

Politische Talkshow-Stars und der Krieg

Verschiedene Interpretationen sind möglich. Geben die westlichen Politiker und Entscheidungsträger ihr Bestes, um den Bürgern unliebsame Überraschungen wie kalte Wohnungen im Winter zu ersparen? Warum haben sie nicht früher an die ungeheuren Abhängigkeiten gedacht und die offenen Flanken bedacht, die durch die Gegenmassnahmen exponiert werden? Und sind es die richtigen Entscheidungsträger, die bereits bei der Pandemie ein schlechtes Management zeigten und seit Monaten nun kopflos wirken und überhaupt nicht vorbereitet für einen Konflikt mit dem anderen Lager?

Planet Emergency und rückgratlose Regierungen

Die Produzenten, egal ob staatliche Gesellschaften wie Aramco oder private wie Shell, nutzen die Gelegenheit, um so viel Öl so teuer wie möglich zu verkaufen? Jedenfalls nimmt die Öl- und Gas-Industrie, von der Russland ein bedeutender Teil ist, die Gelegenheiten mit, die der Krieg so mit sich bringt. Die Politiker knicken ein und werfen selbst angesichts der Überhitzungstendenzen auf dem Planeten alle Pläne zur CO2-Reduzierung über Bord. «Erst kommt der Ofen, dann die Moral», könnte man Brechts Zitat aus gegebenem Anlass umformulieren. Dabei geht es weniger um Moral, als um blanke Überlebensfähigkeit. In Indien sind in der jüngsten Hitzeperiode en masse tote Vögel vom Himmel gefallen. In den Städten steigt die Zahl der Hitzetoten über die Jahre exponentiell. Was wäre, wenn ein Gletscherabgang in der Schweiz einen der Seen treffen und einen Tsunami auslösen würde? Klingt für die meisten fantastisch, ist aber in der geologisch jüngeren Vergangenheit häufig geschehen. Die Wahrscheinlichkeiten wachsen jedenfalls.

Krieg und Frieden

Nach einer langen Phase relativen Friedens und Wohlstands hat sich die Welt nun gewandelt. Anleger sollten sich durch das «business as usual»-Protokoll nicht in ihrer Urteilsfähigkeit einschränken lassen. Die Situation ist neu und war zumindest seit den frühen 1990er-Jahren nicht vorstellbar. Ein Grund war das «Mega-Tons to Mega-Watts» Programm zur Vernichtung nuklearer Sprengköpfe. Das hochangereicherte Uran wurde so weit ent-reichert, dass es für den Betrieb von Kernkraftwerken geeignet war. Die nukleare Bedrohung verminderte sich gerade nach dem Ende der Sowjetunion, und Republiken wie die Ukraine lieferten ihre Sprengköpfe an Russland zur anschliessenden Ent-Reicherung in den USA. Das Abrüstungsprogramm schlief jedoch ein. Eine verpasste Chance. Stattdessen haben zwischenzeitlich auch Pakistan und Nordkorea Nuklearwaffen. Was sich nach den Erfahrungen in Syrien und der Ukraine sagen lässt, ist, dass die Durchsetzung geo-strategischer Ziele heute ganz anders aussieht als noch vor einigen Jahrzehnten. Und nie war der Schaden, den unfähige Dilettanten anrichten können grösser.

So oder so betrachtet, die Erkenntnis von T.S. Eliot trifft zu: «Das meiste Unheil auf der Welt wird von Menschen angestellt, die sich wichtig vorkommen.»

Kommentar verfassen