Inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Es herrscht akuter Fachkräftemangel an allen Ecken und Enden. Ob Hotels, Industrie, Handwerk, Bau oder Gesundheitswesen – eigentlich gibt es kaum einen Wirtschaftssektor, der nicht über fehlendes Fachpersonal klagt. Das verheisst nichts Gutes für die längerfristigen Inflationserwartungen, selbst wenn sich die Preise für Rohstoffe, Energie und Transport wieder normalisieren sollten. Was sind die Gründe? Und wie können Lösungen aussehen?
Das Thema ist vielschichtig. Und es wird für gewöhnlich auch nicht an die grosse Glocke gehängt. Tatsache ist aber, dass zahlreiche Unternehmen in ihren Geschäfts- oder Periodenberichten nicht nur Transport- und Lieferverzögerungen, Energie- und Rohstoffkosten als dämpfende Faktoren anführen, sondern inzwischen fast regelmässig auch die mangelnde Verfügbarkeit von Fachkräften. Das geht so weit, dass Aufträge nicht abgearbeitet werden können, weil das geschulte Personal fehlt oder Hotels so unterbesetzt sind, dass nur ein Teil der Zimmer für Gäste verfügbar ist, und dies trotz guter Buchungslage.
Fachkräftemangel und wirtschaftliche Verluste
Natürlich gibt es verschiedene Statistiken zu dem Phänomen, doch wer misst schon «entgangene Umsätze», und, wenn ja, wie? Oder wie werden die hohen Opportunitätskosten erfasst, wenn sich das Management sehr viel stärker mit Personalmarketing, Incentivierung, Personalagenturen, Bewerbergesprächen oder Ausbildungsgängen beschäftigen muss? Vielsagender können da schon Originaltöne aus der Wirtschaft sein. Oder auch einfach die Ergebnisse der eigenen Beobachtung. Auffällig ist beispielsweise, wie viele Restaurants, Bistros, Cafés, Einzelhändler und Servicebetriebe teilweise oder ganz geschlossen bleiben.
Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt
Der Tourismus hat sich in der Schweiz nach zwei Pandemiejahren zwar wieder belebt, doch insbesondere im Hotelbereich ist es mit dem Personal eng. So eng sogar, dass das verbleibende Personal unter der gehäuften Arbeitslast zusammenbricht. So lief einem Hotelier erst der Direktor davon – und nicht lange danach sein Stellvertreter. Ersatz für beide Positionen ist nicht zu finden. Das Resultat ist, dass die Zimmerkapazitäten nur zu einem Bruchteil für zahlende Gäste zur Verfügung stehen. Dies bedroht zunehmend die Wirtschaftlichkeit, obwohl die Nachfrage gut ist.
Migrationsdruck und Facharbeiter-Nachfrage
In der Industrie ist es nicht besser; die Anforderungen sind höher und spezifischer, aber landeseigener Nachwuchs ist rar gesät. Und Praktiken, wie Facharbeiter per Flugzeug von einem Land ins andere zu fliegen, stossen schnell an ihre Grenzen, denn auch im Hauptreservoir für Fachkräfte – Osteuropa – ist der Arbeitsmarkt leergefegt. In Bukarest beispielsweise kommen Zimmermädchen, Pflegekräfte, Mechaniker, Taxifahrer, Bäcker, Bauarbeiter zunehmend aus dem Iran, Afghanistan oder Pakistan. Die auf EU-Niveau ausgebildeten Fachkräfte wie Ingenieure, Programmierer und Techniker sind längst in Deutschland, den USA oder Australien, wo sie ein Vielfaches verdienen.
TikTok-Star oder Bauarbeiter?
In den west- wie auch den osteuropäischen EU-Ländern sind Berufe, die mit harter körperlicher Arbeit verbunden sind, für junge Einsteiger am Arbeitsmarkt nicht mehr sonderlich attraktiv. Wer will nachts um 3 Uhr aufstehen, um Brot zu backen, oder den halben Tag in der Kanalisation verbringen oder als Pfleger das Leben für Debile, Demente und Invalide lebenswert gestalten? Stattdessen brachte die Internet- und Smartphone-Revolution ganz neue Berufsbilder hervor, die scheinbar glamourös und dabei weniger anstrengend sind sowie potenziell sehr viel mehr bringen – als Daytrader, Influencer oder TikTok-Star.
Das demografische Defizit
Ein entscheidender Faktor für den Fachkräftemangel ist ganz simpel die demografische Entwicklung. In der Schweiz verlassen rund 130’000 Babyboomer pro Jahr den Arbeitsmarkt, aber nur 80’000 Berufseinsteiger rücken nach. Sie können es sich leisten, wählerisch zu sein. Bisher wurde das Defizit teilweise durch Zuwanderung ausgeglichen, doch die Bedingungen haben sich seit Beginn der Pandemie deutlich verschlechtert, was zum angespannten Arbeitsmarkt beiträgt. Viele der Einwanderer stammen zudem aus Deutschland, was nicht allen Schweizern vorbehaltlos gefällt.
Homeoffice keine Patentlösung
Die Pandemie hat vielfältige Änderungen in der Arbeitswelt ausgelöst. «Homeoffice» ist das Schlagwort. Doch viele Tätigkeiten, die für das reibungslose Funktionieren der Wirtschaft unverzichtbar sind, lassen sich nicht am Monitor ausüben. Die Schäden eines Rohrbruchs, einer Überflutung oder eines Brandes können nur vor Ort behoben werden. Gebäude werden nach wie vor von Menschen errichtet, wenn auch mit maschineller Hilfe.
Engpässe bei systemkritischen Berufen
Das Bedenkliche ist, dass gerade in den «systemkritischen» Berufen wie Feuerwehr, Notambulanzen und Gesundheitssektor allgemein oder Wartung und Reparatur von Infrastruktur der Nachwuchs zu fehlen scheint. Kein Wunder, denn Krankenschwestern und Pflegekräfte beispielsweise haben jahrelang nahezu wirkungslos auf den Stress, den «work-overload», die schlechten Arbeitsbedingungen und die miserable Bezahlung hingewiesen.
Roboter im Vormarsch
Allgemein antworten Unternehmen mit Automationsinitiativen, wo es nur geht. Das funktioniert in der Industrie besser als zum Beispiel im Gesundheitswesen, aber auch dort sind Robo-Docs im Vormarsch. In Japan mit seiner überalterten Gesellschaft sind Pflegeroboter inzwischen ziemlich entwickelt und finden breiten Einsatz. Und überall werden Haushalts- und Gartenhilfen durch Saug- und Rasenmähroboter ersetzt.
Covid und kein Ende
Die Pandemie hängt den meisten Lesern bereits zum Hals raus. Man mag es nicht mehr hören. So verständlich die Abwehrreaktion ist, so unabdingbar ist es für Analysen und Prognosen, ganz genau hinzuschauen und die Fakten kühl und ohne Emotionen zu bewerten. So ist Corona 2021 die dritthäufigste Todesursache in der Schweiz gewesen. 12% der Todesfälle gehen auf das Konto des Virus. Darunter waren auch Fachkräfte, die im Zenit ihres beruflichen Wirkens standen.
Long Covid – die stille Pandemie
Weit schwerer wiegt aber «Long Covid». Bisher gab es aufgrund des erst kürzlichen Auftretens des neuen Virus keine Historie, sondern nur Beobachtungen, Vermutungen und nur nach und nach erste Studienergebnisse. Inzwischen liegen mehrere umfangreiche Befunde vor, um aus dem bislang ominösen Krankheitsbild eine aussagekräftige Statistik zu erstellen. Die amerikanische Brookings Institution veröffentliche im August einen Folgebericht zu Long Covid, dessen ernüchternde Ergebnisse durch eine sehr solide Datenbasis untermauert sind.
Schäden in Billionenhöhe
Das Census Bureau hatte im Juni den US-Bürgern erstmals vier Covid-relevante spezifische Fragen gestellt. Das Ergebnis ist, dass 16.3 Mio. US-Bürger im Alter zwischen 18 und 65 Jahren an Long Covid leiden. Das sind 8% der Work Force in den USA! Davon sind 2 bis 4 Mio. dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden. Die anderen arbeiten reduziert, im Homeoffice, wo möglich, oder in manchmal schlechter bezahlten, aber machbaren Tätigkeiten. Der Schaden für die US-Volkswirtschaft beträgt in verlorenen Löhnen ausgedrückt zwischen 170 Mrd. USD und 230 Mrd. USD p.a. Das entsprich fast 1% des US-BIP. Dazu kommen laut dem Ökonomen der Harvard University David Cutler noch 544 Mrd. USD jährlich für Gesundheitskosten und «Lost Quality of Life».
Minneapolis Fed erforscht Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
Auch die Federal Reserve Bank of Minneapolis hat sich mit Long Covid und den Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt beschäftigt. Das Ergebnis ist, dass 24,1% der Covid-Infizierten an Long Covid mit Symptomen über drei Monate oder länger litten. Bei einer landesweiten Infektionsrate von 70% kommt die Minneapolis Fed mit 17 Mio. Long-Covid-Fällen zu einem bemerkenswert ähnlichen Ergebnis.
Der britischen Gewerkschaftsverband TUC führte eine umfassende Umfrage bei seinen Mitgliedern durch. Demnach arbeiten 20% der Long-Covid-Fälle gar nicht und 16% zeitreduziert. Eine Studie, die in der Wissenschaftspublikation The Lancet erschien, nennt 22%, die wegen Long Covid nicht mehr arbeiten können und 45%, die nur reduziert arbeiten.
Wahrscheinlichkeiten
Je länger sich die Pandemie hinzieht, neue Mutationen und Wiederholungsinfektionen auftreten, umso stärker wird der Anteil der Long-Covid-Fälle zunehmen. Nach heutigem Wissensstand vermindern Impfungen die Wahrscheinlichkeit von Long Covid zwar um 15%, doch zeigt sich auch, dass mit jeder erneuten Infektion die Wahrscheinlich für Long Covid stark zunimmt.
Long Covid in den USA und Europa
Immerhin wird Long Covid in den USA nun ernst genommen. Das Weisse Haus hat einen 85 Seiten umfassenden nationalen Action Plan on Long Covid bekannt gemacht, und der Kongress hat 1.15 Mrd. USD für Long-Covid-Forschung freigegeben. In Europa ist das Thema dagegen scheinbar ein Tabu, über das nicht geredet wird. Tun es Wissenschaftler doch, hört niemand zu. Verdrängung und Stigmatisierung der Betroffenen als Simulanten tragen jedoch zu keiner Lösung bei, weder für die Gesellschaft noch für die Wirtschaft. Denn zuallererst muss das Problem als solches erkannt werden, bevor Lösungen gefunden werden können. Dem stehen jedoch, wie so oft, Ignoranz, Ressentiments und irrationale Wissenschaftsfeindlichkeit entgegen. Das könnte bei der gegebenen stillen Long-Covid-Pandemie, wie die Zahlen zu den USA zeigen, extrem teuer werden.
Fazit
Langfristige Trends, strukturelle Brüche und unerwartete Entwicklungen haben die Arbeitsmärkte in den letzten Jahren schon stark beeinflusst. Das wird sich fortsetzen, denn Künstliche Intelligenz, Automatisierung und Robotik werden die Arbeitswelt weiter revolutionieren. Aber auch die Auswirkungen von Pandemie, Krieg und der zunehmenden Mangelwirtschaft fordern ihren Tribut. In vielerlei Hinsicht rächen sich auch die Versäumnisse der Vergangenheit. Energie-Autarkie durch einen beschleunigten Ausbau der Regenerativen Energien wäre eine bessere Ausgangslage als die gegenwärtige von Abhängigkeiten geprägte.
Eine vernünftige wirtschaftsopportunistische Einwanderungspolitik, bessere Bezahlung im Gesundheitswesen und generell eine gesteigerte Attraktivität der Arbeitsrealität, egal in welchem Beruf, würden bessere Voraussetzungen für den Nachwuchs bieten, als dies derzeit der Fall ist. Unternehmenslenker werden ja durchaus üppig dafür bezahlt, ihre Unternehmen in eine prosperierende Zukunft zu führen. Eigentlich können sie es sich nicht leisten, wegen Personalmangel die Geschäftspotenziale auf Dauer nur unzureichend auszunutzen. Dies würden die Aktionäre nicht hinnehmen. Die Prioritäten der Personalwirtschaft sollten sich daher ändern. Der Human-Ressource-Faktor zählt heute mehr, als es noch die meisten Arbeitgeber anerkennen wollen. Die Aussichten für Lohnerhöhungen scheinen jedenfalls besser als während der langen disinflationären Phase, die nun eben zu Ende ist.