Macro Perspective: Was ist an den Börsen für 2023 zu erwarten?

Quantitative Tightening schafft Auftrieb für Assets, die in USD denominiert sind

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Sicherer Hafen in unsicheren Zeiten: der Dollar als König. Quelle: usfunds.com

«Der handelbare Wert sämlicher Rohstoffe nimmt zu, wie die Schwierigkeiten der Produktion steigen.» David Ricardo, 1772-1823, Wirtschaftswissenschaftler

2022 – ein Börsenjahrgang zum Vergessen! Nicht einmal eine Weihnachts-Rallye hat es gegeben. Nichts blieb den Anlegern erspart. Doch nun geht das Jahr zu Ende und ein neues beginnt. Alles zurück auf Start?

Wohl kaum, denn hohe Inflation, Zinsanstieg, Pandemie und Krieg sind noch sehr real. Dennoch sind an der Börse nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen gestiegen. Anpassungsprozesse an neue Realitäten brauchen Zeit, bringen hohe Kursschwankungen mit sich und bieten versierten Investoren gute Möglichkeiten. Nur schwieriger ist es geworden. Die Geld-Flut der letzten Jahre hat alle Schiffe angehoben, doch das ist nun Geschichte.

QT statt QE

Quantitative Tightening ist im Angesicht der entfesselten Inflation für die Notenbanken neben dem Anheben der Leitzinsen das Gebot der Stunde. Doch beides wird nur in den USA entschieden betrieben. Mit mehreren deutlichen Zinserhöhungsschritten auf 4% hat die Fed zuvor verspielte Glaubwürdigkeit zurückgewonnen. Die EZB dagegen hat das Zinsniveau nur auf 1,5% angehoben, während Japan trotz kosmetischer Änderungen bei seiner Nullzins-Politik bleibt.

Der Brexit und die Folgen

Grossbritannien ist nach der endlos scheinenden Brexit-Krise in einer speziellen Situation und bleibt de facto sogar bei der QE-Notenbankpolitik, oder muss es bleiben, denn die Pläne der kurzzeitigen Premierministerin Truss führten fast zum Kollaps an den Finanzmärkten. Nur im grossen Massstab getätigte Käufe der Staatsanleihen durch die BoE konnten Schlimmeres verhindern.

Warum der USD steigt

In der relativen Betrachtung auf die globalen Reserve-Währungen zeigt sich also eine ziemliche Bandbreite, und die wiederum erklärt das Geschehen an den Devisenmärkten. Während es eine weiterhin steigende Anzahl von GBP gibt und Euro und Yen in gleichem Masse wie vor der Ära des Inflationsanstiegs vorhanden sind, nimmt die Fed ihre Aufgabe ernster und entzieht dem Markt 95 Mrd. USD pro Monat durch Nicht-Wiederanlage fälliger Staatsanleihen im Bestand. Das Resultat ist, dass es relativ weniger USD gibt. Netto-Verkäufe aus dem Bestand sind der nächste logische Schritt.

Safe haven

Der USD gilt zu Recht als «Hafen der Sicherheit» in unsicheren Zeiten. Kapital strömt in die Weltleitwährung, um Verluste in anderen Währungen zu vermeiden oder zu reduzieren. Die Wahrscheinlichkeit eines Kollapses des USD wird von den Anlegern weltweit als gering eingeschätzt, vor allem im Verhältnis zu den Wahrscheinlichkeiten bei anderen Währungen.

EUR/USD seit 2020. Chart: money-net.ch
Der starke USD und die globalen Auswirkungen

Dazu kommt, dass unverändert die meisten Rohstoffe inklusive Energie in USD gehandelt werden. Ein steigender USD hat deshalb für den Rest der Welt unterschiedliche Auswirkungen. Der Aufwand für Rohstoffe, Materialien und Energie steigt für die Unternehmen in der EU, Japan, den Emerging Markets überproportional, was Auswirkungen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die Gewinnmargen hat – und sogar auf das soziale Gefüge sowie die Politik.

Die Schweizer Perspektive

Die Schweiz ist aufgrund der harten Währung in einer Sonderposition, die sich bislang in mässiger Inflation und einem vergleichsweise moderaten Zinsanstieg manifestiert. Das Verständnis für die harten Realitäten in Hochinflationsländern ist daher meist beschränkt.

Problematische USD-Verschuldung

Zu den weiteren Auswirkungen zählen auch Zahlungsschwierigkeiten aufgrund hoher Verbindlichkeiten in USD, die vor allem Unternehmen aus den Emerging Markets betreffen. Sind diese überwiegend binnenorientiert, fallen auch die Erlöse in heimischer Währung an, beispielsweise der türkischen Lira. Angesichts des Währungszerfalls ist es schwierig, Zinsdienst und Tilgung leisten zu können. Für Schwachwährungsländer dürfte es mangels Devisen auch zunehmend schwierig, oder sogar unmöglich, werden, in USD gehandelte Rohstoffe und Energie zu importieren, sei es zum eigenen Verbrauch oder für die verarbeitende Exportindustrie. In den zahlreichen extremen Fällen sind auch keine Devisen für Medizinprodukte und Nahrungsmittel vorhanden.

Währungseffekte für Unternehmen in Hartwährungsländern

Der Kreis schliesst sich, weil viele US-Unternehmen einen grossen Anteil ihrer Umsätze jenseits der Landesgrenzen generieren. Bei der Umrechnung in USD zehren die Währungsverluste die Gewinne auf. Das KGV des US-Aktienmarktes für 2022 liegt bei 16. Im Vergleich zu dem deutlich über 20 liegenden Multiple in der Tiefzinsära ist das wenig, aber im Verhältnis zu den historischen KGVs in inflationären Phasen ist es sehr hoch. Im Hartwährungsland Schweiz ist die Devisenproblematik für Unternehmen ähnlich.

Zeitenwende

Mit Blick auf den US-Aktienmarkt, die Welt-Leitbörse, scheint sich eine Bewertungsschere aufzutun zwischen den allgemeinen Erwartungen und den Gewinnprognosen der Analysten einerseits und den ökonomischen Realitäten und Entwicklungen andererseits. Die Berichterstattung der Finanzmedien ist noch weitgehend vom vorvorigen «Status quo» bestimmt, also der Zeit vor Kriegsbeginn und Pandemie – und damit auch vor der Wiederkehr der Inflation. Die «Zeitenwende» wird zwar in Schlagzeilen genannt, selten aber in ihrer Tragweite verstanden.

Warum der Analystenkonsens auch irreführend sein kann

Bei den Analysten und deren Konsenszahlen ist die Problematik vielschichtig. Empirische Studien zeigten wiederholt, dass Anpassungen der Gewinnschätzungen meist zu spät vorgenommen werden, oft zu optimistisch sind und sich häufig aneinander ausrichten. Ein Phänomen ist das sogenannte Anchoring. In der Regel werden sich neue Schätzungen an den bestehenden orientieren und fast nie ausserhalb der Extremwerte liegen. Steigen die Gewinne eines Unternehmens exponentiell oder fallen in den Verlustbereich, werden die Schätzungen meist erst nach vollendeten Tatsachen sukzessive angepasst. «Group-Think» wird das genannt und ist für Investoren bei der Erzielung guter Renditen nicht sonderlich hilfreich.

Betongold – der Glanz ist abgeblättert

Die Zeitenwende hat bereits zu grossen Verwerfungen an den Kapitalmärkten geführt, obwohl die Zinssteigerungen bisher noch recht überschaubar ausgefallen sind. Zu den gravierenden Beispielen zählen Immobilienaktien. Das «Betongold» an der Börse hat zuletzt schnell den fahlen Glanz verloren, der dem Sektor immer verliehen wurde. Die Kursrückgänge fallen weit stärker aus, als von den meisten Marktteilnehmern vorstellbar war und verkraftbar ist. Der Ausblick für den zinsreagiblen Sektor bleibt auch nach Verlusten von bis zu 80% negativ. Ein Teil der tragischen Verluste mit Immobilienaktien ist auf das Marketing der Branche zurückzuführen, mit dem der irrige, aber weitverbreitete Glaube verstärkt wurde, dass man mit Betongold nicht verlieren kann.

Phase II des Bärenmarktes

Tatsächlich dürften den Anlegern noch weitere Überraschungen beschert werden. Die Börsenkorrektur befindet sich noch in Phase II, während der die Auswirkung von Inflation und höheren Zinsen auf die einzelnen Unternehmen kalkuliert werden. Und das braucht Zeit. Die meisten ökonomischen Aktivitäten sind von Zinsänderungen beeinflusst, ob Bauanträge, Autokäufe oder Einzelhandelsumsätze. Bei vielen Haushalten ist das verfügbare Einkommen durch die Teuerung schon beträchtlich eingeschränkt.

Kapitulation steht erst noch bevor

Phase III ist dann Kapitulation. Erst wenn die letzten Optimisten entnervt das Handtuch werfen, ist der Markt von allen Exzessen gereinigt, und ein neuer Zyklus kann beginnen. Das war nach den Baissen von 2000 bis 2003 sowie 2008/2009 der Fall und wird dieses Mal nicht anders sein. Es bedeutet leider, dass die Indizes vom gegenwärtigen Niveau ohne weiteres nochmals 20% oder 30% verlieren können.

Change of Leadership

Die Leader des kommenden Börsenzyklus werden mit Sicherheit nicht die bisherigen Marktlieblinge wie Meta Platforms, Alphabet, Netflix oder Amazon sein. Cisco Systems und Juniper Networks waren die absoluten Lieblinge des Marktes in der Nasdaq-Hausse bis zur Jahrtausendwende. Apple und Amazon wollte im Übrigen in dieser Zeit niemand haben, die Aktien dümpelten. Danach sind Cisco Systems und Juniper Networks nie wieder zu ähnlicher Prominenz aufgestiegen. Und der Nasdaq, der damals die Leitfunktion der Hausse eingenommen hatte, brauchte nach dem Hoch von 2000 volle 14 Jahre, bis er wieder dasselbe Indexniveau erreichen konnte.

Juniper Networks gehörte zu den Lieblingen des Marktes in der Nasdaq-Hausse. Chart: google.com
Rückbesinnung auf Qualität und Pricing Power

Aktuell spricht kaum noch jemand über SPACs, Kryptos oder MEME-Aktien, was zeigt, dass deren Prominenz nicht viel mehr als ein Symptom der überbordenden Liquiditätsschöpfung war. Ähnlich wie bei dem Beispiel der Währungen ist es auch bei Aktien und im gesamten Anlage-Universum. Flucht in die Qualität, in klare Marktführer und Unternehmen, die sich durch eine dominierende Stellung auszeichnen. Entscheidend ist die Pricing Power wie bei Anbietern mit Alleinstellungsmerkmalen, etwa im Konsum- und Luxusgüterbereich oder in der patentgeschützten Pharma-Industrie.

Commodities sind wieder «in»

Plötzlich verändern die Kapitalströme ihre Richtung. Lange als Relikt betrachtet, sind Rohstoffe wieder sehr en vogue. Es war schon lange bekannt, dass die eine geringe Korrelation zu den Aktien- und Anleihemärkten aufweisen und deshalb gut zur Diversifikation geeignet sind. Es brauchte aber scheinbar erst die Hausse an den Commodity-Märkten, um entsprechende Umschichtungen auf bereits erhöhtem Preisniveau vorzunehmen.

Kernfragen für 2023

Abgesehen von externen Faktoren wie Naturkatastrophen und Kriegsgeschehen hängt vieles an den Notenbanken. Wollen sie Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, müssen sie die Inflation bezwingen und wieder absehbar auf die 2%-Zielgrösse zurückführen, die für USA und EU gilt. Die Entschlossenheit der Fed erhöht die Chancen, dass die Rezession eher kürzer als länger dauern wird. Wenn die Inflation sinkt, können auch die Leitzinsen wieder zurückgeführt werden, möglicherweise schon im zweiten Halbjahr 2023. Es könnte aber auch länger dauern, wenn der Geist der Inflation nicht so schnell in die Flasche zurückkehrt.

Wohin gehen die Renditen der Staatsanleihen?

Eine unbekannte Grösse stellt die Veränderungsrate bei den Staatsfinanzen dar. Wenn auch die Renditen bei Staatsanleihen schon angezogen haben, bleibt doch fraglich, ob die Käufer von Bonds und Bunds sich weiterhin mit negativen Realzinsen abspeisen lassen werden. Deutschland, der beste Schuldner der EU, muss 2023 Bunds im Volumen von rund 500 Mrd. Euro emittieren. Italien protestiert bereits gegen die angekündigte EZB-Politik zur Bekämpfung der Inflation. Verschärfte Konflikte sind absehbar. Weniger Steuereinnahmen, mehr Verpflichtungen, Verteilungskämpfe und steigende Zinskosten sind für die Börsenentwicklung nicht gerade förderlich.

Notenbank-Dilemma

Die Unsicherheiten sind gross. Zeitenwenden und Strukturwandel gehen nicht ohne Brüche und Umwälzungen vonstatten. Notenbanken und Regierungen haben sich in eine langfristig unhaltbare Situation gebracht. Ausgaben, Unterstützungen, Verbindlichkeiten durch Garantien, Konjunkturprogramme und dergleichen mehr haben die Schuldenberge beträchtlich ansteigen lassen. Während des Null-Zins-Niveaus wurde scheinbar kein Problem erkannt. Tatsache ist aber, dass der Zinsdienst nun erheblich höher ausfällt und sogar noch sehr viel weiter steigen könnte. Deutschland importiert fast alle Rohstoffe und den Grossteil der Energie, die jeweils durch die USD-Stärke noch teurer geworden sind. Die Angst vor der De-Industrialisierung geht bereits um.

QT in der EU

Die Bilanzsumme der EZB liegt auf einer Höhe mit der der Fed bei etwa 9 Billionen USD. Der grösste Teil davon wird in Staatsanleihen gehalten, die durch die QE-Politik aufgekauft wurden, um der Konjunktur durch tiefere Zinsen auf die Sprünge zu helfen. So weit, so gut. Doch im Angesicht eskalierender Inflation ist die aufgeblähte Geldmenge selbst inflatorisch und wahrscheinlich sogar ein wesentlicher Grund für den rapiden Teuerungsschub in den zweistelligen Prozentbereich. Handelt die EZB vernünftig, muss sie eher früher als später ihre Bilanz verkürzen, das heisst, fällig werdende Titel nicht mehr durch neue zu ersetzen und in der Konsequenz auch Staatsanleihen zu verkaufen. Die Alternative wäre, weiterhin mit hohen und möglicherweise weiter steigenden Teuerungsraten zu rechnen.

Börsennavigation

So oder so, die Fed marschiert voran und verringert die umlaufenden USD, und deshalb sind Anleger klug beraten, in Vermögenswerte investiert zu sein, die in knapper werdenden USD denominiert sind. Oder im gleichermassen starken CHF. Bei einer Kontraktion will jeder seine Schäfchen ins Trockene bringen. In der aktuellen Situation bedeutet dies, in starke Währungen zu gehen und nur auf die allerbesten Aktien zu setzen, Kredit und Wackelkandidaten generell zu vermeiden, eine hohe Cash-Position zu halten und Diversifikation zu betreiben.

An Ricardos Erkenntnis aus dem frühen 19. Jahrhundert hat sich bis heute nichts geändert: «Während der Periode, in der sich Kapital von einem Engagement zum nächsten bewegt, werden die Gewinne der Aktiva, denen das Kapital zufliesst, relativ hoch sein, doch dies wird sich so nicht länger fortsetzen, als bis das erforderliche Kapital bezogen ist.»

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