In den Schlagzeilen ist der traditionsreiche Hersteller von medizinischen Verbrauchsgütern nur selten. Covid war so ein Fall, als anfänglich die Nachfrage nach Sterilisationsmitteln in die Höhe schoss. Seitdem ist es wieder ruhig geworden um IVF Hartmann. Nach der Korrektur seit Februar 2021 macht die Aktie jetzt aber durch eine lange und fast abgeschlossene Bodenbildung in Form einer Untertasse auf sich aufmerksam. Kommt es zum Ausbruch?
Bei IVF Hartmann handelt es sich nur bei oberflächlicher Betrachtung um eine langweilige Aktie. Tatsächlich ist die Aktie ein sehr solider Performer an der Schweizer Börse. Seit dem Gang an die SIX im Dezember 1997 hat sich der Aktienkurs in der Spitze verfünfzehnfacht. Hinzu kommt die Dividende, die seit 2013 von 1.90 CHF je Aktie auf 3.50 CHF in 2021 angehoben worden war, wobei 1 CHF auf eine einmalige Sonderdividende anlässlich des 150-jährigen Jubiläums entfiel. 2022 wurde die Ausschüttung auf 1.90 CHF gekürzt. Das abgeschlossene Geschäftsjahr 2021 hatte sich als tückisch erwiesen.
Boom and Bust in der Pandemie
Nach dem anfänglichen Covid-bedingten Nachfrageboom vor allem bei Sterilisationsmitteln fielen die Folgeaufträge von Krankenhäusern, Pflegeheimen und Apotheken sukzessive schwächer aus. Durch die Verschiebung von nicht dringlichen Operationen schwächte sich die Nachfrage zusätzlich ab. 2022 war immer noch von hohen Lagerbeständen bei den Kliniken und den anderen Nachfragern geprägt. Gleichzeitig wurde IVF Hartmann von Kostensteigerungen für Materialien, Energie und Transport getroffen sowie von Lieferverzögerungen und nachteiligen Wechselkursveränderungen. Die höheren Kosten konnten zeitverzögert und nur teilweise an die Kunden weitergegeben werden, was zu einer vorübergehenden Gewinnkontraktion beitrug. Neue Anbieter waren im Verlauf der Pandemie in den Markt gedrängt, doch IVF Hartmann konnte durch Kostenführerschaft die Marktanteile nicht nur halten, sondern teilweise sogar ausbauen.
Kostensenkungen zeigen Wirkung
Im Geschäftsjahr 2021 war der Umsatz um 16,7% auf 144.1 Mio. CHF zurückgegangen, der Reingewinn sank überproportional um 65,2% auf 6.2 Mio. CHF. Bereits im ersten Halbjahr 2022 zeigten die im Vorjahr getroffenen Massnahmen jedoch Wirkung. Während der Semesterumsatz um 1,6% auf 72.9 Mio. CHF anstieg, kletterte der Gewinn um 31% auf 5 Mio. CHF. Die EBIT-Marge nahm um 1,7 Prozentpunkte auf 8,3% zu. Bereits 2021 waren Teile der Produktion ins kostengünstigere Ausland verlagert worden. Im selben Jahr war auch das neue Logistikzentrum in Neuhausen in Betrieb genommen worden. Die Herstellung von einigen Produkten war 2022 an Lieferanten ausgelagert worden. Am Standort Neuhausen wird dagegen die Herstellung von Produkten zum lokalen Vertrieb gestärkt. Insgesamt zählt IVF Hartmann zum 30.06.2022 noch 312 Mitarbeitende in der Schweiz, ein Rückgang um 7,7%.
Die zyklische Komponente
Obwohl IVF Hartmann ein Grundversorger von medizinischen Verbrauchsgütern ist und das Wachstum normalerweise wenig zyklisch ist, hat sich doch gezeigt, dass der Geschäftsgang bei Ungleichgewichten von Angebot und Nachfrage, wie seit Beginn der Pandemie, eben doch stärker dem konjunkturellen Auf und Ab unterworfen sein kann. Die wichtigsten Geschäftsfelder sind Operationsversorgung, Wundbehandlung, Inkontinenzversorgung, Desinfektionsmittel, Erste Hilfe und Hauswirtschaft. Dazu kommen noch wirkstoffhaltige Pflaster mit höheren Margen. Kundenspezifische Services helfen, Prozesse in der Behandlung und Betreuung von Patienten mit chronischen Krankheitsbildern wie bei der Inkontinenzversorgung zu verbessern. Dabei spielt die Digitalisierung eine zunehmend wichtige Rolle.
Vom Pionier zum Systemlieferanten
Das Unternehmen blickt auf eine lange Geschichte zurück und ist gleichzeitig dem Innovationsgeist, der zur Gründung führte, wie der Tradition verpflichtet. Kriege gab es schon immer, und oft wurden die Soldaten nicht Opfer der Verletzungen, sondern der nachfolgenden Infektionskrankheiten. 1870/1871 tobte der deutsch-französische Krieg und führte in Schaffhausen zur Gründung der weltweit ersten Fabrik von Verbandstoffen, nachdem sich feine Baumwollfasern in Form von Watte als gut geeignet für die sterile Wundbehandlung erwiesen hatten. Pflaster sind bereits seit 1885 im Sortiment. Zu den Marken-Erfolgsgeschichten zählt auch die 1926 gegründete DermaPlast, die heute bei Notfallkoffern einen Marktanteil von 80% verzeichnet. Das erste alkoholbasierte Handdesinfektionsmittel Sterilium kam 1965 an den Markt und ist bis heute ein Marktführer in der Infektionsprävention.
Übernahme und Namenswechsel
Das Unternehmen trägt den Namen Hartmann jedoch erst seit 1993, als die deutsche Hartmann-Gruppe ein 60%-Aktienpaket von Galenica übernahm. Später kam nach einer Akquisition noch das IVF zum Unternehmensnamen hinzu. Die Übernahme durch die bereits 1818 gegründete deutsche Hartmann AG macht Sinn und ist hochsynergetisch. Albert Hartmann hatte nach dem deutsch-französischen Krieg in Heidenheim die erste deutsche Verbandstofffabrik gegründet und stellte nach dem Schweizer Verfahren Watte her. Diese wurde dann mit einem keimtötenden Antiseptikum imprägniert. Heute ist die Hartmann-Gruppe mit einem Umsatz von 2.3 Mrd. Euro ein europäischer Marktführer in der Versorgung mit medizinischen Gebrauchsgütern für Fachhandel, Kliniken, Ärzte, Pflegeeinrichtungen, Apotheken und Drogerien. Zum Konsolidierungskreis zählen u.a. Bode Chemie, Kneipp sowie Karl Otto Braun und eben auch IVF Hartmann.
Aktionariat
Die Hartmann-Gruppe hält 71,2% der Aktien der Schweizer IVF Hartmann. Der Free-Float ist bei über 2’000 Aktionären breit gestreut. Beim Mehrheitsaktionär ist der Fall schwieriger. Lange lag die Mehrheit bei der Gründerfamilie. Bis 2015 gab es einen sich auf 80% der Stimmaktien erstreckenden Pooling-Vertrag, demzufolge die Aktien nur an andere Pool-Partner verkauft werden durften. Bereits 2008 hatte sich die der Schleicher Familie zuzurechnende Schwenk Limes GmbH & Co. KG mit einer Mehrheit bei der deutschen Hartmann AG eingekauft, diese Beteiligung jedoch nach dem Ende des Pooling-Vertrages verkauft. Die Aktie wird im wenig regulierten Freiverkehrs-Segment «Open Market» der Frankfurter Börse gehandelt, wo kaum Veröffentlichungspflichten gefordert sind. Der Free-Float soll seit Jahren 99% betragen. Bei «Die Deutsche Wirtschaft» wird allerdings unverändert die Familie als Inhaber genannt.
Merkwürdigkeiten
Bei beiden Aktien ist die Liquidität eher gering. Oft wechseln nur einige hundert Aktien am Tag den Besitzer. Es ist zumindest fragwürdig, ob sich hinter den 99% Streubesitz bei der deutschen Muttergesellschaft nicht doch Grossaktionäre verbergen. Denn ein so geringes Handelsvolumen ist bei dem hohen Free-Float ebenso merkwürdig wie die Tatsache, dass institutionelle Investoren nur mit minimalen Grössenordnungen wie KBC Asset Management mit 0,12% oder Hauck Aufhäusser Lampe mit 0,02% beteiligt sind. Ebenfalls merkwürdig sind Kredite von IVF Hartmann an die Muttergesellschaft, für die der Kreditgeber sogar Negativzinsen bezahlt.
Marktkapitalisierung von Mutter und Tochter
Die Aktien von IVF Hartmann liegen bei aktuell 114 CHF rund 40% unter dem Hoch von Anfang 2021. Das historische Hoch erreichte 2017 Kurse nahe 220 CHF. Die Aktie der Muttergesellschaft notiert aktuell bei 230 Euro, das Hoch lag Anfang 2021 bei über 400 Euro. Die Marktkapitalisierung der Mutter liegt bei 817 Mio. Euro, die der Tochter IVF Hartmann bei 272 Mio. CHF.
Franchise Value
Unter Bewertungsaspekten gesehen erscheint IVF Hartmann im gegebenen Börsenumfeld durchaus attraktiv. Ein stetiges, wenn auch geringes Wachstum mit soliden Gewinnmargen und eine starke Wettbewerbsposition sprechen für eine weiterhin positive Unternehmens- und Gewinnentwicklung. Ein wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass IVF Hartmann Systemanbieter für die Schweizer Gesundheitswirtschaft ist. Ob OP-Abdeckung, Sterilisation oder Wundverband – alles kommt aus einer Hand. Neue Produkte werden mit den Anwendern gemeinsam entwickelt. Man kann bei der Positionierung durchaus von tiefen Burggräben zu Wettbewerbern und einem hohen Franchise-Value sprechen. Die Eigenkapitalquote bewegt sich in den letzten Jahren nahe bei 80%. Die letzte reguläre Dividendenausschüttung belief sich auf 4.6 Mio. CHF, in den Vorjahren auf 6 Mio. CHF.
EU-Bürokratie als Wachstumshemmnis
Neben den bekannten Risiken stellt die zunehmende Eiszeit zwischen der EU und der Schweiz ein Problem dar. Für einen in beiden Regionen gleichermassen aktiven integrierten Gesundheitskonzern sind die ausufernde Regulierung und die Fülle von Dokumentationspflichten und Konformitätsnachweisen eine geschäftsschädigende aufgebürdete Bürokratie, die nicht nur die Anwender abschreckt, sondern auch Kosten und Opportunitätskosten verursacht und damit die Wettbewerbsfähigkeit schwächt. Dies umso mehr, als die grenzüberschreitende Kooperation im Fall Hartmann bis in die 1870er Jahre zurückreicht und über Jahrzehnte hinweg zum Nutzen der Patienten und der Volksgesundheit bestens und sogar vorbildlich funktioniert hat.
Corporate Citizenship
IVF Hartmann ist im Selbstverständnis ein systemrelevanter Grundversorger für das Schweizer Gesundheitswesen. Eine wichtige Lektion der Pandemie war, dass die Bestände kritischer medizinischer Verbrauchsgüter erhöht werden, um eine verbesserte Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Diese Lagerbildung zum Allgemeinwohl bindet aber auch Kapital.
Fehlendes ESG-Reporting
Zu den Herausforderungen zählt auch das bislang fehlende Nachhaltigkeitsreporting. Den Unternehmensberichten ist zu entnehmen, dass zu 100% Öko-Strom bezogen wird und dass Recyclinglösungen eine Priorität darstellen. Weiterhin legt der «Kodex zum ethischen Geschäftsverhalten» des Schweizer Medizintechnikverbandes «Swiss Medtech» die Richtlinien für das Verhalten der Mitarbeitenden fest. Allerdings sind bisher keine Informationen zu der Reduzierung von Wasser- und Energieverbrauch oder Angaben zu den Scope-3-Emissionen zu finden. Ebenso wenig wird über die Chancengleichheit von Frauen und deren gleiche Bezahlung rapportiert. Das wohl grösste Defizit besteht aber in der Governance. Im Verwaltungsrat von IVF Hartmann sind auch Vertreter des Hauptaktionärs. Bei Bilanzpressekonferenzen und ähnlichen Anlässen wird jedoch nichts über die Strategie, die Ziele, das Verfahren mit der Beteiligung oder ähnlich zukunftsgerichtete Fragen gesagt. Man hält sich bedeckt. Dem Interesse der freien Aktionäre an Auskunft und Information wird offensichtlich bislang kein hohes Gewicht beigemessen.
Fazit
Es scheint, als ob die Schweizer IVF Hartmann eine Perle im Beteiligungsportfolio der deutschen Hartmann AG ist. Das drückt sich schon in dem sehr unterschiedlichen KUV von Mutter und Tochter aus: 0.3 bei Hartmann und fast 2 bei IVF Hartmann. Die Nachfrageschwankungen seit 2020 hat das Unternehmen für eine Restrukturierung der Prozesse genutzt und dadurch die Kostenführerschaft ausgebaut. Als Systemanbieter ist die Marktstellung im Schweizer Gesundheitswesen hervorragend, wenngleich der Wettbewerb spürbar zunimmt. Aus Anlegersicht bieten Bewertung und Profitabilität gute Voraussetzungen. Fantasie besteht auch in der Verbesserung der Visibilität am Kapitalmarkt. Ein zeitgemässes ESG-Reporting könnte durchaus neue Anlegerkreise erschliessen. IVF Hartmann würde wohl in vielen Punkten gut abschneiden, wenn auch nicht unbedingt bei der Governance.
Die Fragezeichen bezüglich der Absichten des Hauptaktionärs sind wohl auch der Grund für die geringe Liquidität und die im Healthcare Universum eher unterdurchschnittliche Kursentwicklung. Der dänische Inkontinenz- und Wundversorgungsspezialist Coloplast beispielsweise erzielte in den letzten fünf Jahren eine Performance von 63% vs. -43% bei IVF Hartmann! Gerade das Potenzial für Verbesserungen könnte der Aktie Schubkraft geben, sofern eine höhere Veränderungsrate erkennbar wird. Das langfristige Chartbild zeigt eine über ein Jahr ausgeprägte und scheinbar tragfähige Bodenbildung, die bei nachhaltigem Überschreiten der 125-CHF-Marke abgeschlossen sein könnte. Ein erstes Kursziel wäre dann 190 CHF, das Zwischenhoch von 2021, danach Kurse über dem historischen Hoch von 2017 bei 220 CHF.