Alle diskutieren gerne über E-Mobilitätstrends oder wer das beste Elektroauto baut. Wer etwas tiefer zu denken bereit ist, diskutiert über Akku-Hersteller, denn egal, welcher Markenname auf dem Kühlergrill – Verzeihung: der Frontverkleidung prangt: Akkus brauchen sie alle. Wenn Akku-Herstellung das Gold des E-mobilen Jahrzehnts ist, dann verkauft Carlo Gavazzi die Schaufeln, Eimer und Waschpfannen für die Goldschürfer: Die Steuerung eines Akkus und seiner Ladestation ist für dessen Funktion unverzichtbar – egal, welcher Hersteller die Zellen dafür zusammengelötet hat. Und das ist nur eine von vielen High-Tech-Anwendungen für die unscheinbaren Bauteile der in Steinhausen ZG beheimateten, weltweit aktiven Gruppe.
Den Elektronikkomponenten seit über 90 Jahren treu
Nach seiner Gründung in Mailand 1931 expandierte das Unternehmen Carlo Gavazzi bald in weitere Bereiche. Die Firmengeschichte legt Zeugnis über zahlreiche Entwicklungsschritte ab, bei denen jeweils aufgrund technologischer Entwicklung und Marktchancen neue Aktivitäten aufgenommen oder aber aus ebenso guten Gründen wieder eingestellt oder verkauft wurden: 1953 wurden die Geschäftsbereiche «Instrumentierung und Kontrollpanels» und 1965 «elektromechanische Komponenten und elektronische Kontrollgeräte» in den Konzern aufgenommen.
Zur Ausweitung der Produktpalette und Erschliessung internationaler Märkte wurden weitere Unternehmen gegründet oder erworben, so z.B. in 1963 Reactor Controls, USA, der damalige Marktführer für hydraulische Regelstab-Steuerung für Siedewasserreaktoren, in 1986 Mupac, ein US-amerikanischer Hersteller von elektronischen Systemverpackungsprodukten, in 1988 Electromatic (Kontrollkomponenten), Feme (Relais und Schalter) und Areg (Antriebssysteme), in 2000 der italienische Sensoren-Hersteller Saiet und in 2001 die kalifornische Firma Channel Access.
Immer wieder wurden auch Geschäftsbereiche abgegeben, so erfolgte 1986 der Verkauf einer Joint-Venture-Beteiligung an einen japanischen Partner, 1996 und 2000 von nicht strategischen Geschäftsfeldern, 2002 die Abgabe der Geschäftseinheit «Engineering and Contracting», 2007 die Einstellung der Channel-Access-Vertriebsaktivitäten und 2009 der Verkauf der Geschäftseinheit «Computing Solutions».
Mit der Expansion des Geschäftsvolumens wurden auch Produktionsstandorte im Ausland eröffnet, wie ab 2004 die Aufnahme der Sensorproduktion in Litauen, 2005 der Aufbau einer Produktionsanlage in China, der Schaffung eines regionalen Hauptsitzes in Singapur und der Eröffnung von vier Verkaufsbüros in China sowie 2006 der Abschluss der Produktionsverlagerung nach Litauen und Malta.
Seit 1984 ist die Carlo Gavazzi Holding an der Zürcher Börse SIX kotiert und somit auch in das Sichtfeld von Aktieninvestoren gerückt.
Zulieferer für ein breites Kundenspektrum
Heute entwickeln, bauen und vertreiben knapp über 1’000 Mitarbeitende unter dem Titel «Automation Components» Elektronikkomponenten für Industrie und Gebäudetechnik. Die Produkte von Carlo Gavazzi werden an den Standorten Italien, Litauen, Malta und China hergestellt und über ein Vertriebsnetz von 22 eigenen Verkaufsgesellschaften weltweit vermarktet. Die Produkte in Form von Sensoren, Überwachungsrelais, Zeitrelais, Energiemanagement-Systemen, Halbleiterrelais, Sicherheitskomponenten und Feldbussen werden in Automatisierungslösungen für Industrie- und Gebäudeanwendungen eingesetzt. Wichtige Kundengruppen sind dabei OEM-Hersteller für die Verpackungs-, Kunststoff-, Nahrungsmittel- oder Getränkeindustrie, aber auch Produzenten von Materialhandling- und Fördertechnikanlagen, Tür- und Eingangskontrollsystemen, Aufzügen und Rolltreppen sowie die Heizungs-, Lüftungs- und Klimatechnik.
Kerngeschäft sind die «Niederungen der Automatisierung» – was zunächst wenig schmeichelhaft klingen mag, aber das Fundament jedes komplexen, prozessgesteuerten Systems bildet. Gavazzi-Bauteile arbeiten an den Stellen, an denen Daten über Umweltzustände erfasst und zusammengeführt werden. Aus diesen Daten werden daraufhin Steuerbefehle generiert und an (Stell-)Motoren, Ventile, Lampen oder Schalter verteilt. 43% des Umsatzes von 183 Mio. CHF (Geschäftsjahr 2021/22; +23,8% gegenüber Vorjahr) entfallen auf den Bereich Controls, dessen Einsatzschwerpunkte in Anwendungen für Heizung/Lüftung/Klima, Automatiktüren und Smart Building liegen. Der klare Wachstumstreiber unter den Controls mit jährlichen Zuwachsraten von ca. 30% sind sehr deutlich die Lösungen für das Energiemanagement. Weitere 23% des Umsatzes werden mit Sensoren für Energieanwendungen, Aufzüge und Smart Building erwirtschaftet. Die restlichen 34% tragen Halbleiterrelais («Solid State Switches») bei, die schwerpunktmässig in der Landwirtschaft, Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie, aber auch im Bergbau Verwendung finden. Nach Regionen aufgeschlüsselt bildet EMEA mit 67% der Umsätze ein deutliches Schwergewicht vor Amerika (19%) und Asien-Pazifik (14%).
Die passenden Bauteile für die passende Anwendung
Da Komponenten auch gemäss Kundenwunsch und -spezifikation entwickelt werden, ist das Sortiment an einzelnen Bauteilen durchaus breit gefächert. Nachfolgend sind einige Produktgruppen und Anwendungsbeispiele zusammengetragen, um die Produkt- und Leistungspalette des Unternehmens besser fassbar zu machen:
- Sensoren vieler Art, wie sie z.B. in Sicherheitseinrichtungen («Lichtschranken») gebraucht werden, oder die auf Druck, Abstandsveränderung (u.a. Park Distance Control), Rotationsgeschwindigkeit, Beschleunigung, Flüssigkeitsströme, Füllstände oder Luftfeuchte reagieren.
- Sicherheitsschalter setzen die Signale von Sensoren in Befehle an Aktoren, Motoren und ähnliche Bauteile um, bei Bedarf auch in explosionsgefährlicher Atmosphäre.
- Solid State Relais (SSR) = verschleissfreie Halbleiterrelais für elektrische Schaltungen.
- Soft Starter («Sanftanlasser») begrenzen die Leistung am Anlaufen, verhindern Überlastung und erhöhen so die Lebensdauer von Motoren und Netzteilen. Dies bewirkt, dass z.B. ein Förderband oder eine Tür ihre Bewegungen nicht ruckartig starten und stoppen, sondern sanft, leise und materialschonend.
- Selbstschaltende Netzteile steuern z.B. den Ladestrom von Akkus, bis deren gewünschter Ladezustand erreicht ist.
- Digitale Messgeräte, Stromanalyse- und -steuergeräte sowie Transformatoren ermöglichen eine Überwachung und optimale Steuerung einzelner Stromgrossverbraucher in der Industrie.
- Datensammel- und -auslesegeräte, die erfasste Sensor- oder Stromverbrauchsdaten per Webserver an einen weit entfernten Empfänger senden und Steuerbefehle empfangen können, z.B. um eine Windkraftanlage am anderen Ende der Welt laufend zu überwachen.
- Zubehör zur Gebäudeautomatisierung, mit dessen Hilfe Heizung, Lüftung, Klimatisierung, Sonnenschutz etc. automatisch und ressourcenschonend gesteuert werden.
Hohe Anforderungen an die Produktqualität und -innovation
Insbesondere bei industriellen Anwendungen müssen solche Bauteile widerstandsfähig gegen Vibrationen, Erschütterungen, mechanische Stösse, wechselnde elektromagnetische Felder, chemische Angriffe (korrosive Gase oder Flüssigkeiten) und Temperaturschwankungen sein. Vieles, was Gavazzi verkauft, wird in Schaltschränken oder unter Verkleidungen verbaut und wirkt im Verborgenen. Dabei verlassen sich die Anwender auf die langfristige Funktionsfähigkeit der kleinen, unscheinbaren Bauteile. Das traditionsreiche Unternehmen stellt sich erfolgreich auf die Anforderungen der zunehmenden Automatisierung und Miniaturisierung ein, die insbesondere die Technologie des «Internets der Dinge», auch gerne als «Industrie 4.0» betitelt, mit sich bringt. Klimaschutz und E-Mobilität erzeugen – wenig verwunderlich – einen besonderen Nachfrageboom und gleichzeitig hohen Innovationsdruck im Bereich der Energiemanagementlösungen. Die wohl prägnantesten Anwendungsbeispiele sind hier wohl die nötigen Sensoren und Steuergeräte für eine Wallbox oder die Lade- und Entladesteuerung leistungsstarker und hochpreisiger Akkus.
Sehr ansprechende wirtschaftliche Entwicklung
Gemäss dem letzten Geschäftsjahresabschluss per 31.03.2022 wuchs der Auftragseingang um 48,2% auf 232.1 Mio. CHF und sorgt über den erhöhten Umsatz hinaus für einen ausserordentlich hohen Auftragsbestand von 80.2 Mio. CHF. Dank einer EBIT-Marge von 16,0% verblieb ein EBIT von 31.0 Mio. CHF und ein Periodengewinn nach Steuern von 22.0 Mio. CHF (+81,8% gegenüber Vorjahr). Aus dem Ergebnis je Aktie von 31 CHF wurde eine Dividende von 12 CHF je Inhaberaktie verteilt, woraus sich eine Ausschüttungsrendite von 3,9% und eine Ausschüttungsquote von 39% errechnet. Das Aktienkapital teilt sich in zwei Gattungen auf, nämlich 1.6 Mio. nichtkotierte Stimmrechtsaktien à je 3 CHF und rund 391’000 kotierte Inhaberaktien à je 15 CHF. Rund 79% aller Stimmrechte liegen in Familienhand, folglich sitzen die externen Aktionäre als Junior-Partner bei Familie Gavazzi mit im Boot.
Im Lauf der letzten drei Geschäftsjahre verbesserte sich die Eigenkapitalrendite in grossen Schritten von 6,7% (2019/20) über 11,4% (2020/21) auf 19% (2021/22), jeweils bei kaum veränderter Belegschaftsstärke. Weitere Merkmale einer umsichtigen Unternehmenssteuerung sind die Nettoliquidität von 67 Mio. CHF, eine beneidenswert hohe Eigenkapitalquote von 69% und – bereits seit mehreren Jahren – das Fehlen jeglicher Bankschulden. Angesichts der Halbjahreszahlen per 30.09.2022 geht die Erfolgsgeschichte weiter: Getrieben durch eine 67% stärkere Nachfrage nach Steuergeräten für Energiemanagement- und Energieeffizienzlösungen wuchs der Halbjahresumsatz um weitere 13,1% gegenüber der Vorjahresperiode auf 104.7 Mio. CHF. Ein um 10% auf 133.1 Mio. CHF gestiegener Auftragseingang türmt den Auftragsbestand auf schätzungsweise 110 Mio. CHF, entsprechend ungefähr einem halben Jahresumsatz.
Wie attraktiv ist die Aktie gegenüber Wettbewerbern?
Alle nachfolgenden Kennzahlen «pro Aktie» beziehen sich im Fall von Carlo Gavazzi auf 711’000 Inhaberaktien-Äquivalente. Ein Peer-Group-Vergleich wird neben der Struktur des Aktienkapitals auch durch die jeweils unterschiedlichen Geschäftsjahre erschwert. Die Ergebnisse aus Zwischenberichten wurden an dieser Stelle nicht berücksichtigt. Sämtliche Vergleichsunternehmen sind in den Vorjahren unterschiedlich schwer von ausserordentlichen Faktoren wie COVID oder globalen Lieferkettenunterbrüchen belastet worden und erfahren aktuell auch die Aufholeffekte unterschiedlich stark. Da es keine idealen Abbilder der Gavazzi-Gruppe an der Schweizer Börse gibt, seien hier für eine näherungsweise Orientierung zwei Werte herangezogen, deren Kundenkreis zumindest teilweise identisch mit Gavazzi sein dürfte:
- Etwa die Hälfte des Geschäfts der Belimo AG stammt aus Ventilen, weiterhin ist der regionale Anteil Amerikas bedeutend höher. Die Umsatzerlöse dieses Vorreiters bei klimarelevanten Produkten haben in den vergangenen Jahren lebhaft zugelegt und betragen derzeit rund das Vierfache von Gavazzi, wuchsen dafür aber zuletzt weniger dynamisch. Die Eigenkapitalquote ist ähnlich hoch, die Ausschüttungsquote fest doppelt so hoch wie bei Gavazzi.
- Die Schaffner Holding AG ist mit rund 160 Mio. CHF ein wenig kleiner, ebenso deren Eigenkapitalquote und die Ergebnismarge. Die Hälfte der letzten Ausschüttung stammte aus Rücklagen.
Div.-Rendite |
KGV |
KUV |
KBV |
|
Belimo |
1,9% |
44 |
6,4 |
10,4 |
C. Gavazzi |
3,9% |
10 |
1,0 |
1,9 |
Schaffner |
3,3% |
13,5 |
1,1 |
1,6 |
(Quelle: eigene Berechnung)
Potenzial beim stakeholdergerechten Reporting
Angesichts des zuletzt kräftig wachsenden Geschäftsvolumens scheint Gavazzi im operativen Bereich die Weichen richtig gestellt zu haben. Von risikoträchtigen globalen Trends wie der Lieferkettenproblematik, welche weitgehend ausserhalb der Kontrolle eines Unternehmens liegt, scheint das Unternehmen nicht signifikant beeinträchtigt zu sein. Das Bild der erfolgreichen, für die Zukunft gerüsteten, börsenkotierten Publikumsgesellschaft wird durch das derzeit noch völlige Fehlen einer ESG-Berichterstattung getrübt. Man führe das Thema ganz weit oben auf der Agenda und sehe die damit verbundenen, über den Mehraufwand hinausgehenden Nutzen. Für die Adressaten dieses Reportings bleiben Pläne und Arbeiten aber so lange unsichtbar, bis tatsächlich mindestens in der ab demnächst gesetzlich geforderten Weise darüber berichtet wird. Hingegen sind solche Berichte bei den beiden vorgenannten Vergleichsunternehmen verfügbar.
Fazit
Rechnet man die Halbjahreszahlen proportional auf das soeben am 31.03.2023 beendete Geschäftsjahr hoch, sollte ein Gewinn in der Grössenordnung von ca. 27.0 Mio. CHF oder 38 CHF je Aktie ausweisbar sein. Auf Basis des aktuellen Kurses von 310 CHF ergäbe sich ein aktuelles KGV von nur 8.2. Diese Hochrechnung erscheint sogar konservativ, da die Gruppe mit stabiler Belegschaft seit Beginn des Geschäftsjahres 2021/22 bedeutend mehr Aufträge akquiriert und Umsatz erwirtschaftet als in den Jahren zuvor. Dank der bankschuldenfreien Bilanz, der soliden Geschäftsentwicklung und des Potenzials in der Ausschüttungsquote könnte es sich die Carlo Gavazzi Holding bequem leisten, seine Eigentümer in diesem Jahr mit einer höheren Dividende von z.B. 16 CHF zu erfreuen. Der Kurs bildet die gute Entwicklung bislang noch nicht ab, die aktuelle Dividendenrendite und weiteres Erhöhungspotenzial sichern ihn nach unten ab. Entscheidend für die weitere Bewertung des familiendominierten Unternehmens ist daher wohl die Frage, wann der Rückstand auf den Marktstandard bei der ESG-Berichterstattung aufgeholt wird. Kurzfrist-Spekulanten dürften ohnehin wenig Freude an der Gavazzi-Aktie haben – zudem auch die täglich gehandelten Stückzahlen recht beschränkt sind.