«Öffentliche Meinungen über Themen, die dem Verstand schwer zugänglich sind, sind oft richtig, aber selten oder nie die ganze Wahrheit.» John Stuart Mill, 1806-1873, Philosoph, Ökonom, Politiker
In der medialen Dauerberieselung vergeht spätestens seit März 2022 kein Tag, ohne dass steigende Rohstoffpreise als Grund für die Inflation angeführt werden. Populäre Nachrichtenmagazine titelten noch Monate nach den Preisspitzen im vergangenen Frühjahr: «Die Energiepreise gehen durch die Decke» oder führten den von Russland angezettelten «Kornkrieg» als Inflationstreiber an.
Die Unternehmen sind nicht anders. Kaum ein Geschäftsbericht, der nicht die Preissteigerungen für Energie, Materialien, Transport usw. aufführt. Und die Konsumenten fügen sich und passen, wenn erforderlich, ihre Kaufgewohnheiten an die neuen Bedingungen an, so gut es eben geht.
Aus Schweizer Sicht sind die Probleme der Inflation und rapide steigender Preise zwar nicht unbedeutend, erreichen aber bei weitem nicht die Ausmasse, die in den meisten vergleichbaren Ländern zu verzeichnen sind. Entsprechend gravierender fallen auch die wirtschaftlichen Folgen aus, wie beispielsweise die zunehmend brutalen Auseinandersetzungen bei sozial motivierten Protesten in Frankreich zeigen. Aber auch auf der alpinen «Insel der Glückseligen“ ist die «gefühlte» Inflation für die weniger Begüterten allmählich beängstigend.
Meinungen und Glaubwürdigkeit
Meinungen zur Inflationsentwicklung gibt es viele, die meisten sind akademischer oder populistischer Natur und tragen wenig zum Verständnis oder zur Aufklärung über die Hintergründe bei. Es ist einfacher, Putin verantwortlich zu machen oder die Rohstoffpreise, auch wenn die weitaus meisten längst tiefer als vor Beginn des Ukrainekriegs liegen. Fachleute mit Expertise finden sich am ehesten bei den Notenbanken und der BIZ. Letztere und die SNB sehen im Übrigen aktuell keinen Zinssenkungsspielraum im Hinblick auf die zunehmenden Kerninflationsraten. Und auch für die EZB ist in der Inflationsbekämpfung der «Endpunkt noch nicht erreicht».
Die Schweiz und das «Big Picture»
Gerade in der Schweiz ist es sinnvoll, eine globale Perspektive einzunehmen, denn trotz der stabilen Binnenkonjunktur sind Exporte für Wirtschaft und Wohlstand wichtig, ebenso die gelebten globalen Beziehungen, die zu einer hohen Internationalisierung geführt haben. Politische Gegenwinde wie aus der EU gilt es zu kompensieren.
Inflation – ein globales Phänomen
Wenn auch die Teuerung in der Schweiz mit aktuell 2,6% im tolerierbaren Bereich liegt, in der EU, in den USA und fast allen anderen Ländern liegen die Inflationsraten deutlich höher. EU-weit sind es aktuell 7%. In Frankreich 5,9%. In Deutschland 7,2% und in Italien 8,3%. Im Post-Brexit UK sind es sogar 10,1%. In den USA sind es noch 4,9%, in Kanada 4,3%. Selbst in Japan ist die Inflationsrate von aktuell 3,2% erstmals seit Jahrzehnten wieder über den Zielwert von 2% gestiegen. Am höchsten unter den entwickelten Ländern ist die Inflationsrate in Argentinien mit 108%. Weitere Krisenländer sind Türkei mit 43,7%, Pakistan mit 36,4% oder Ungarn mit 24%.
Makro-Faktoren
Abgesehen von politischen Fehlentwicklungen und Abwertung der Währungen spielen viele Faktoren eine Rolle für die jeweilige nationale Inflationsentwicklung, darunter eine unangemessen akkommodierende Zinspolitik nach dem Diktat der Regierung, ausufernde Staatsverschuldung, eskalierende Kosten für Importe, Verschuldung in Fremdwährungen etc. In den Ländern der ersten Welt sind es jedoch trotz manchen Krisenszenarios eher die klassischen ökonomischen Gründe für Inflation.
Cost-Push Inflation
Nach der volkswirtschaftlichen Theorie kann eine steigende und hohe Inflation zwei Ursachen haben. Von «Cost-Push Inflation» spricht man, wenn steigende Preise für Rohstoffe inklusive Energie und/oder Lohnsteigerungen zu Preiserhöhungen führen. Rohstoffe und Energie waren die Auslöser für die breiten Preiserhöhungen seit Februar 2022.
Demand-Pull Inflation
Die zweite Variante wird «Demand-Pull Inflation» genannt. Hier ist die Nachfrage nach Produkten oder Dienstleistungen so stark, dass die Preise angehoben werden können, ohne dadurch die Nachfrage zu bremsen. Diese Art von Inflation ist gegenwärtig eher rar und auf Spezialitäten beschränkt. Bei Ungleichgewichten kann sich das jedoch schnell ändern, beispielsweise bei Halbleitern, die für viele Endprodukte unverzichtbar sind und bei Engpässen an den Meistbietenden gehen. Die Produktionsrückgänge der Automobilindustrie während der Pandemie waren genau von so einem Engpass wesentlich mit verursacht worden.
Faktoren für die Inflationserwartungen
Darüber hinaus können Zölle, Abgaben, Steuern und nicht zuletzt der Immobilienmarkt Einfluss auf die Teuerung auf Konsumentenebene ausüben und sich wechselseitig verstärken. Hat sich die Inflation erst einmal als hartnäckig und strukturell erwiesen, ändern sich auch die Inflationserwartungen der Kapitalmarktakteure. Dies kann zu höheren Renditeanforderungen im Bereich der länger laufenden Staatsanleihen und sonstiger Zinsinstrumente führen. Die Rückwirkungen auf die Realwirtschaft können gravierend ausfallen.
Fiskaldisziplin gefordert
Deshalb sind die Notenbanken gefordert, ihr Mandat zur Wahrung einer stabilen Währung und der Kaufkraft zu erfüllen. Das kann und muss sogar zu Konflikten mit den Regierungen führen. Die geben allesamt, von Ausnahmen wie Dänemark und Schweiz abgesehen, viel zu viel aus und machen zu hohe Schulden. Fiskaldisziplin ist gefordert: in den USA, wo die Schuldengrenze mal wieder für Schlagzeilen sorgt, in fast allen EU-Ländern und auch sonst fast überall. Die Staatsverschuldung der USA liegt bei 129% des BIP, in Japan sind es sogar 264%. In der Euro-Region sind es im Durchschnitt 91,5%. Italien ragt mit 144,7% heraus, aber auch Spanien mit 113% und Frankreich mit 111% sind kritisch zu sehen. Weniger verschuldet sind die Schweiz mit 41%, Schweden mit 33%, Australien mit 22% und Russland mit 18% des BIP.
Zweit- und Drittrundeneffekte
Die SNB spricht schon seit geraumer Zeit davon, dass die Teuerung auch Produkte und Services erfasst hat, die nicht im Zusammenhang mit den Preisentwicklungen an den Rohstoffmärkten stehen. Oder es ist allgemein von sogenannten Zweit- und Drittrundeneffekten die Rede, womit wohl Löhne und Mieten gemeint sind. Somit steigen bei fortgesetzten Teuerungstendenzen absehbar auch die Inflationserwartungen, was sich über kurz oder lang in den geforderten Anleiherenditen niederschlagen sollte, zumal die Notenbanken ja auch ihre Anleihebestände inzwischen abbauen. Es ist wie eine monetäre Gezeitenwende, wobei der Eindruck entsteht, dass die Badenden sich der Sogkräfte der Ebbe nicht bewusst sind.
Von Preisanpassung zur Gierflation
Dass die Unternehmen die Preissteigerungen bei Rohstoffen, Materialien, Energie und Transport auf die eigenen Kunden überwälzen, ist verständlich und normal. Normalerweise jedoch sorgt der Wettbewerb dafür, dass die Preiserhöhungen massvoll ausfallen, schliesslich will kein Unternehmen Marktanteile verlieren. Die aktuelle Situation ist allerdings anders. Wesentliche Preiserhöhungen auf breiter Front hat es in der langen Periode der Disinflation nicht gegeben. Erst die Ungleichgewichte durch die Verwerfungen in der Pandemie und dann der Kriegsbeginn haben den Unternehmen jede Möglichkeit zu Preisanhebungen gegeben. Und die wurden und werden exzessiv genutzt. Es zeigt sich in den Gewinnausweisen, die teilweise ausserhalb jeder Proportion liegen, beispielsweise bei Unternehmen der Energiewirtschaft, der Nahrungsmittel-, Gebrauchsgüter- und der Luxusgüterindustrien. Der neue Terminus für dieses Verhalten und die Folgen, bisher bekannt als Profit-Preis-Spirale, lautet «Gierflation»!
Rohstoffinflation und die Echokammern
In den Massenmedien, den Fachmedien und bei alltäglichen Diskussionen wird jedoch unverändert das Narrativ der «steigenden Rohstoffpreise» als eigentlicher Grund für die Inflation weiterverbreitet. Doch das ist eine weitere bequeme Täuschung und Verschiebung, um sich nicht mit dem feinen Räderwerk der Inflationsmaschinerie auseinanderzusetzen. Tatsächlich kann jeder die Preise von Weizen, Rohöl, Kupfer und allen sonst gehandelten Rohstoffen selbst vergleichen und damit feststellen, dass die Preise an den Warenbörsen zumeist deutlich unter dem Niveau von vor einem Jahr oder Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 liegen.
Soft-Preise bei Metallen und «soft commodities»
Der Preis für Rohöl liegt aktuell für Brent 28% tiefer und für WTI 30% tiefer als vor einem Jahr. Erdgas liegt, je nach Land, zwischen 60% und 72% tiefer. Unter allen gehandelten Energieträgern liegt einzig Uran mit 7% im Plus. Bei den gehandelten Metallen liegen alle deutlich im Minus, ausser den Edelmetallen Gold, Silber und Platin mit 9% bis 14% Anstieg. Zink verlor 30%, Kupfer 10%, Stahl 25% und Lithium 50%. Und auch bei den «soft commodities» zeigt sich ein ähnliches Bild. Weizen liegt 49% unter dem Preisniveau vor einem Jahr, Hafer um 47%, Mais um 28%, Sojabohnen um 19%, Kaffee um 13%. Auch Speiseöle sind günstiger geworden, Sonnenblumenöl um 58%. Gegen den Trend teurer geworden sind dagegen Orangensaft um 49%, Zucker um 30%, Kakao um 21% und Reis um 3%.
Strompreise in Europa um bis zu 72% tiefer
Und auch die nicht alltäglichen Industriemetalle und -rohstoffe wie Cobalt mit einem YoY Rückgang von 53%, Urea-Ammonium von ebenfalls 53% oder Polyvinyl von 34% weisen die gleiche Tendenz auf. Die jeweiligen Indices wie CRB-Index und LME-Index liegen durch die Bank um 14% bis 21% tiefer. Die Preise für Strom sind in den fünf grössten Volkswirtschaften Europas zwischen 38% in Frankreich und 72% in Spanien gegenüber dem Niveau vor einem Jahr gefallen.
Rohstoffpreise in Realtime
Sämtliche angeführten Zahlen sind jederzeit aktuell bei tradingeconomic.com abrufbar. Dies gilt auch für Nachrichtenmoderatoren, Wirtschaftsredakteure, Börsenberichterstatter und andere Meinungsbildner, die so ihrem Auftrag zur Aufklärung bedeutend besser nachkommen können, als es bisher der Fall ist.
Mondpreiserhöhungen
Dann wären auch die Konsumenten in der Lage, ihre Kaufentscheidungen anzupassen und den Herstellern so mitzuteilen, dass sie nicht jeden Preis bezahlen, dessen Erhöhung nicht konsistent mit den Entwicklungen an den Warenbörsen steht. Denn Preissenkungen bei Weizenprodukten oder Kaffee wären angebracht, sind jedoch in der Praxis kaum wahrzunehmen. Stattdessen werden nun auch geradezu unverschämte Preiserhöhungen bei Produkten wie medizinischer Zahnpasta um bis zu 50% durchzusetzen versucht.
Übergewinne
Die Auswirkungen der Preispolitik zeigen sich in den Quartals- und Jahresabschlüssen. Von Nestlé und Richemont über L’Oréal und LVMH bis Hershey und Coca-Cola werden solide Umsatz- und vor allem Gewinnzuwächse verzeichnet, die grossenteils auf sukzessive Preiserhöhungen zurückzuführen sind. Natürlich ist niemand gezwungen, Champagner, Cognac oder Coca-Cola zu trinken und sich deshalb sonst einschränken zu müssen. Für die genannten starken Marken spricht, dass ihre Kunden treu sind. Doch für weniger glamouröse Hersteller gilt das nicht unbedingt. Die Konsumenten sind schon wählerischer geworden und müssen Abstriche machen – in Argentinien mehr, in der Schweiz weniger.
Dass es aber nicht nur um befriedigenden Konsum gehen kann, macht Mill mit seiner denkwürdigen Maxime klar: «Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten.»