«Dichten ist wie Uran gewinnen: Arbeit ein Jahr, Ausbeute ein Gramm.» Wladimir Majakowski, 1893-1930, Dichter
In den Nachrichten ist es nur ein weiterer Militärputsch im fernen Afrika, der schnell von Fussball-Ergebnissen oder den juristischen Nachspielen zu Trumps Präsidentschaft überlagert wird. Der Niger war jedoch die letzte Bastion des Westens in West-Afrika und der Sahel-Zone. Darüber hinaus ist das Land ein bedeutender Lieferant von Uran für die Nuklearwirtschaft in Frankreich und Europa. Zufall oder Plan?
Schon seit 2001 fällt der Anteil der Nuklear-Energie an der weltweit erzeugten Primär-Energie. Vor 20 Jahren lag der Anteil noch bei 7%, bis 2021 war er auf 4,3% zurückgegangen. Die Gründe sind vielfältig, doch der wesentliche ist, dass die Katastrophen von Tschernobyl bis Fukushima einen Stimmungswandel bei weiten Teilen der Bevölkerung in vielen Staaten ausgelöst hatten. So beschlossen die Schweiz und Deutschland nach jahrzehntelangem Ausbau unmittelbar nach der nuklearen Katastrophe in Fukushima den Ausstieg aus der Nuklear-Energie. Dagegen blieb Frankreich stets der Kernkraft verpflichtet, die über 70% zum nationalen Energie-Mix beiträgt. Die Kernkraft ist für Frankreich auch ein bedeutsamer Wirtschaftsfaktor, denn Bau, Betrieb, Wartung, Ver- und Entsorgung von nuklearem Material werden global vermarktet.
Kernkraft-Propaganda neu entfacht
Inzwischen sieht die Welt jedoch anders aus. Die Massnahmen gegen den Klimawandel lassen unter Emissionsaspekten die Nuklear-Energie im Vergleich zu fossilen Brennstoffen scheinbar sehr gut aussehen. Das beflügelt die Diskussion auch in der Schweiz und Deutschland, die Kernkraft wieder salonfähig zu machen. In Japan ist die Schamfrist nach der Fukushima-Katastrophe mittlerweile abgelaufen, wie es scheint. Und auch in vielen Emerging-Market-Ländern von Ägypten über Indien bis Indonesien ist Kernkraft sehr gefragt, auch weil die Betriebskosten relativ zu den kriegsbedingt verteuerten Energieträgern Gas und Öl günstig scheinen.
Was ist nachhaltig?
Besonders gravierend ist, dass die zukünftig massgebliche EU-Taxonomie die Kernkraft, und auch Erdgas, als «nachhaltig» einstuft. Dies ist vor allem auf die Lobby-Arbeit und die «Soft Power» Frankreichs zurückzuführen. Ebenfalls für Kernkraft sind EU-Länder wie Belgien, Finnland und Polen, deren Energieversorgung stark von ihren Kernkraftwerken abhängt. Die Frage der mangelnden Endlager für nuklearen Abfall bleibt indessen ungelöst. Auch der forcierte Import von amerikanischem Flüssiggas (LNG) ist nicht wirklich nachhaltig. Dieses wird ausschliesslich durch Fracking gewonnen, und weite Teile der US-Bevölkerung haben unter den toxischen Substanzen zu leiden, die ins Grundwasser dringen. Und auch der Kniefall vor autoritär regierten LNG-Produzenten wie Katar ist kaum mit demokratischen Werten und den SDGs der UN oder sonstigen ESG-Leitlinien zu vereinbaren.
Politik und Klima-Katastrophe
Die Konfusion von Bevölkerung, Medien und Anlegern über Sinn und Unsinn von ESG-Richtlinien sowie Klima-relevanter Gesetzgebung nimmt somit weiter zu, was auch zu Ermüdungserscheinungen und Ignoranz führt. Das ist keine gute Voraussetzung, um die trotz aller Lippenbekenntnisse weiterhin global steil steigenden Emissionen von Treibhausgasen zu einer Trendumkehr zu führen, um die finale Klima-Katastrophe abzuwenden.
Neue Realitäten
Konfusion und Unsicherheiten sind jedoch typisch für Kriegssituationen, die stets von Propaganda und Gegenpropaganda gekennzeichnet sind, und mehr noch, wenn es um einen «Kampf der Welten» oder der Systeme geht. Insofern sind der seit mehr als zehn Jahre dauernde Krieg in Syrien, die Krim-Annexion und die Invasion der Ukraine sowie jetzt der Putsch im Niger im Kontext zu sehen. Das geopolitische Machtstreben beinhaltet eben Flüchtlingsströme, die Schaffung von Chaos und die Kontrolle von kritischen Rohstoffen. Russland spielte bei dem Putsch der Nationalgarde in der Hauptstadt Niamey allerdings keine erkennbare Rolle, auch wenn Sympathisanten der Putschisten Russland-freundliche Parolen schwenkten.
Wachsende Anzahl von Militär-Diktaturen in Afrika
Die Situation in den Ländern West- und Zentral-Afrikas hat sich im letzten Jahrzehnt grundlegend geändert. Allein in den letzten drei Jahren fanden acht erfolgreiche Militär-Coups in sechs Ländern statt, zuletzt in Mali, Guinea und Burkina Faso. Die meisten heutigen Länder der Region waren Teil des französischen Kolonialreichs. Auch nach der Unabhängigkeit von Frankreich blieb der politische und wirtschaftliche Einfluss stark. Dabei wurden eigene wirtschaftliche Interessen regelmässig höher als die Menschenrechte und demokratische Werte gewichtet. Ein bekanntes Beispiel ist der Diktator der Zentralafrikanischen Republik Jean-Bédel Bokassa, der von 1966 bis 1979 regierte, erst als Präsident nach einem Putsch und in den letzten drei Jahren als selbsternannter Kaiser. Er wurde nach seiner Entmachtung u.a. wegen Kannibalismus angeklagt. Bis fast zuletzt war er von Regierungen des Westens hofiert worden, weil er wie andere Diktatoren in der Dritten Welt als Bollwerk gegen die kommunistische Gefahr akzeptiert war.
Der Arabische Frühling und die repressiven Folgen
Die Zeitenwende für die Sahel-Zone begann 2011 mit dem sogenannten «Arabischen Frühling». Der führte zur Niederschlagung freiheitlicher Bewegungen, wie in Syrien. Der libysche Diktator Gaddafi wurde durch militärische Interventionen des Westens aus dem Amt gefegt und hinterliess bis heute einen rechtsfreien Raum, der von Milizen, Bürgerkrieg und Sklavenhandel gekennzeichnet ist und als teure und tödliche Schleuse für Flüchtlinge missbraucht wird. Vielleicht heute vergessen, hatte Gaddafi trotz vieler verwerflicher Aktivitäten dank des Ölreichtums Libyens jahrzehntelang die ganze Sahel-Zone bei der wirtschaftlichen Entwicklung unterstützt, beispielsweise durch neue Anbau- und Bewässerungsmethoden in der Agrar-Wirtschaft. Das Machtvakuum in der schwer kontrollierbaren Sahel-Zone füllten vor allem die versprengten Jihadisten aus der ganzen islamischen Welt, vor allem aber aus Afghanistan, Irak, Syrien und Libyen.
Das Leiden der Bevölkerung
Armut, Wassermangel, Ernteausfälle sowie Folgen des Klimawandels verschlechterten die Lebensbedingungen für die Bevölkerung. In den «demokratischen» Ländern der Sahel-Zone wie Nigeria und Senegal ist es für die Mehrheit der Bevölkerung in den letzten Jahren nicht besser geworden, genauso wenig wie in den diktatorisch regierten Ländern. 60% bis 70% der Bevölkerung in der Sahelzone ist unter 35 Jahre alt. Die Perspektiven für Ausbildung, Arbeit, Gesundheit und eine bessere Zukunft sind gering. Die Hilfe des Westens beschränkt sich weitgehend auf militärische Unterstützung. Die Erfolge sind jedoch ausgeblieben. Und so unterstützt wie jetzt im Niger die Bevölkerung die Machtübernahme des Militärs und erhofft sich so eine zumindest friedlichere Zukunft, die Frankreich, die EU und die USA im Kampf gegen den islamischen Fundamentalismus nicht erreichen konnten. In Nigeria kämpft das Militär in 32 von 34 Staaten gegen jihadistische Gruppen, dazu kommen Sezessionisten und kriminelle Banden, die Kapital aus dem Chaos schlagen wollen. Die jihadistischen Aktivitäten beschränken sich auch nicht allein auf die Länder der Sahel-Zone, sondern reichen bis Mosambik, Tansania, Kenia, Kongo, Angola und Benin.
Die letzte Bastion fällt
Die russischen Söldner wie die Wagner Gruppe werden den Putschisten im Niger wie schon zuvor im Chad, im Sudan und in anderen Ländern der Region zu Hilfe kommen. Offiziell kommentiert der Kreml die Vorgänge im Niger nicht. Was den Putsch im Niger so besonders macht, ist die Tatsache, dass das Land in militärischer Hinsicht die letzte Bastion des Westens in der Region war und dass es ein wichtiger Lieferant von Uran für Frankreich und der zweitwichtigste für Europa ist. Bisher produziert der französische Konzern Orano weiterhin, doch die Ausstrahlung französischer TV-Programme wurde gestoppt, und die 1500 im Niger stationierten französischen Soldaten müssen das Land verlassen.
Dilemma der militärischen Intervention
Die Situation ist komplex und voller Dilemmata. So fordert der nigerianische Präsident die sofortige Wiedereinsetzung des verfassungskonform gewählten Regierungsoberhauptes im Nachbarland. Er will die Truppen der ECOWAS-Länder (Economic Community of West African States) für eine Invasion im Niger mobilisieren, was jedoch vom Senat in Nigeria abgelehnt wird. Nigeria ist mit einer Militärstärke von über 200’000 Mann die mit Abstand grösste Militärmacht der Region. Die militärische Stärke im Niger erreicht dagegen inklusive Nationalgarde und Polizei maximal 33’000 Mann. Die anderen ECOWAS Länder wie Ghana, Senegal, Elfenbeinküste und Benin haben kein starkes Militär, kämpfen im eigenen Land gegen fundamentalistische Terroristen und müssen wie Nigeria befürchten, dass jedes Engagement jenseits der Landesgrenzen zu einem Putschversuch oder einer Ausweitung terroristischer Aktivitäten im eigenen Land führt und somit die «Stabilität» gefährden würde. Die Putschisten-Regierungen in Mali und Burkina Faso stellen sich klar gegen eine Invasion im Niger. Beide erklärten sogar, dass eine Invasion im Niger als Kriegserklärung gegen ihre Länder gewertet wird. Die in der Vergangenheit durchgeführten Interventionen der ECOWAS-Truppen wie zuletzt 2013 in Mali zeigen zudem einen gemischten Track-Record. Im Niger werden Freiwillige rekrutiert, die sich auch in grosser Zahl finden.
Modus Operandi
Diverse Ultimaten sind verstrichen, doch am 15.08. verschärfte sich die Situation durch die Anklageerhebung der selbsternannten neuen Regierung gegen den arretierten gewählten Präsidenten des Niger wegen Hochverrats. Ihm droht die Todesstrafe. Damit spitzen sich die Ereignisse nun zu. Die Optionen sind gering. Die verschiedenen Versuche, mit den Putschisten zu verhandeln, fruchten nicht. Bestenfalls werden die Putschisten auf Zeit spielen und beispielsweise freie Wahlen in ein oder zwei Jahren in Aussicht stellen. Bis dahin werden russische Söldner im Land sein, auch wenn das in den anderen Ländern der Sahel-Zone nicht unbedingt zu einer Besserung geführt hat. Ziel bei diesen Arrangements ist immer, die Militär-Regierung im Amt zu halten.
Optionen schwinden
Die Lage ist schwierig. Frankreich bezieht einen wesentlichen Teil des Urans aus dem Niger. So war es auch kein Zufall, dass die militärische Präsenz in der Region zwar wie aneinandergereihte Domino-Steine umkippte, der Niger jedoch bis zuletzt stand. Nun ist auch der letzte Domino-Stein am Fallen. Die Aussichten verdüstern sich nun täglich. Wenn die Bastion des Westens und die Uranversorgung Europas gesichert werden sollen, müsste eine militärische Aktion jetzt erfolgen, solange die französischen Truppen noch im Land sind. Die USA unterhalten eine militärlogistische Präsenz für den Einsatz von Drohnen gegen jihadistische Milizen. Wie sich die USA verhalten werden, bleibt offen. Ob die ECOWAS-Truppen durch eine französische Militär-Aktion zur Wiederherstellung der demokratischen Ordnung im Niger ebenfalls mobilisiert werden würden, ist zumindest zweifelhaft. Zu befürchten ist so oder so, dass die Region weiterhin im Chaos versinkt. Der Westen hat seine leeren Versprechungen nur insoweit erfüllt, als Migrationsströme schon in der Sahel-Zone verhindert werden. Gewalt durch das reguläre Militär, fundamentale Milizen und Banditen sowie Hunger und Perspektivlosigkeit zwingen faktisch zur Migration. In der Vergangenheit haben ähnlich lebensfeindliche Bedingungen auch viele Millionen Europäer zur Migration gezwungen.
Uran-Versorgung wird von Kasachstan, Russland und China dominiert
Das Vakuum wird durch russische Söldner, chinesische Investitionen und Player wie die Türkei ausgefüllt. Worum es geht, ist der Zugang zu Rohstoffen wie Öl, Gas, Uran, Kobalt. Obwohl es im Niger auch Öl- und Gasvorkommen gibt, geht es in der globalstrategischen Betrachtung doch hauptsächlich um Uran. Das Element ist sehr ungleich über den Planeten verteilt. Und viele Vorkommen sind schwer erschliessbar und kaum wirtschaftlich abzubauen. 45% der weltweit geförderten Uran-Tonnage entfällt auf Kasachstan, der Grossteil davon auf Minen, die von der staatlichen Gesellschaft betrieben werden. Die zehn grössten Minen steuern 53% zur weltweiten Fördermenge bei. Die Eigentümer sind oft chinesische Gesellschaften wie CGN und CNNC in Namibia und russische Gesellschaften wie Uranium One und Ortlyk. Die französische Orano produziert auch in Kanada mit dem dort ansässigen Cameco-Konzern. Auf die Top-7 Minengesellschaften entfallen 2021 rund 84% der weltweiten Fördermenge. Zu den kleineren Playern zählen die australische BHP und die US-amerikanische Quasar. Orano ist mit einem globalen Förderanteil von 9% die Nr. 2 auf der Liste der grössten Uran-Förderunternehmen.
Explosive Zuspitzung
Die Brisanz der Situation im Niger ist also in mehrfacher Hinsicht konfliktgeladen. Der Einfluss des demokratischen Westens in weiten Teilen Afrikas löst sich fortschreitend auf. Fundamentalistische Milizen dringen überall vor. In die Bresche springen Militär-Diktaturen, die von Söldnern aus Russland gestützt werden. Investitionen leistet China. Im Niger ist China zweitgrösster Investor und dürfte Frankreich nun überholen. Auf globaler Ebene betrachtet wird die Abhängigkeit Europas von importierten Energieträgern auch im Bereich der Nuklear-Energie zunehmend eng. Es ist absehbar, dass Russland und China ihre «Soft Power» zu ihrem Vorteil einsetzen. Es erscheint zwar bei rationaler Betrachtung als unwahrscheinlich, dass aus dem Coup im Niger ein grösserer militärischer Konflikt der Supermächte ausbricht, doch Kriege brechen fast regelmässig dann aus, wenn im Streit um die regionale oder globale Hegemonialstellung die Versorgungssicherheit mit elementaren Rohstoffen abgeschnitten wird.
Die bessere Option sind Verhandlungen und diplomatische Lösungen, denn wie schon der Futurist Majakowski erkannt hatte: «Wort – so heisst der Feldherr aller Menschenkräfte.»