«Die Massen urteilen gar nicht oder falsch. Die Urteile, die die Massen annehmen, sind nur aufgedrängt, niemals geprüfte Urteile.»: Gustave Le Bon, 1841-1931, Anthropologe, Soziologe, Mediziner, Psychologe
Die Konflikte rund um den Erdball nehmen zu, sowohl die Anzahl als auch die Intensität. Die roten Linien fallen, die Rüstungsspirale ist in Gang gesetzt. Neu ist, dass die Lager auseinanderbrechen, neue Zweckpartnerschaften entstehen und neue Gegner auf den Plan treten. Der Terroranschlag in Moskau zeigt die neuen Bruchlinien. Wie lassen sich Portfolio-Risiken begrenzen?
Es ist eine Ära der Verwerfungen. Ein ausufernder Krieg am Rande Europas. Die Zunahme brutaler autoritärer Regime. Ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat, der Gewalt gegen «Ungeziefer» im Inneren schon jetzt heraufbeschwört, jedoch mit Putin durch eine Männerfreundschaft verbunden ist. Radikale Islamisten, die Russland und China in einer Reihe mit den USA und Europa in der Unterdrückung ihrer fundamentalistischen religiösen Anschauungen verorten. Deshalb der Anschlag in Moskau, nachdem ähnliche geplante Terror-Operationen in Brüssel und Köln vereitelt werden konnten. Und fortschreitende Angriffe im Gaza-Streifen, deren Auslöser wiederum eine Terror-Attacke im Oktober in Israel war.
Die Ursachen der Verwerfungen reichen indessen weit, in mancherlei Hinsicht auch sehr weit zurück. Unter dem Titel «TrumPutin – die neue Welt(un)ordnung und die Kristallkugel Börse» wurde ein Teil der sich abzeichnenden Problematik bereits im November 2016 in der Macro Perspective behandelt, und im Juli 2018 als «TrumPutin II – Was machen die Börsen aus der neuen Weltunordnung?» vertieft. Im Juli 2020 folgte «Von der Pandemie zum Pandämonium». Hier wurde untersucht, wie das Beispiel Trump inzwischen gescheiterten Nachahmern wie Bolsonaro und Duarte den Weg ebnete und quasi-Diktatoren wie Erdogan und Putin sowie unverblümten Diktatoren wie Xi Jinping den Weg zur Machtkonzentration erleichterte. Die Eskalation in und um Israel sowie der sich seitdem stetig ausweitende Nahost-Konflikt waren Gegenstand der Macro Perspective im Oktober 2023.
Das Ende der Epoche des Friedens
Ein solches konfliktbehaftetes Szenario war noch vor 10 Jahren unvorstellbar. Probleme, Kriege und Attentate gab es schon damals, aber alles war lokal, regional oder durch andere Faktoren begrenzt, nicht zuletzt, weil es keine militärischen Muskelspiele, Drohungen oder Aufrüstungsbestrebungen unter den grossen Militärmächten gab. Die Friedensdividende seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 droht 2024 allerdings gestrichen zu werden. Aus Frieden wird akute Kriegsgefahr. Aufrüstung ist angesagt!
Marschflugkörper in der Politk
Nichts zeigt dies deutlicher als die öffentlichen Diskussionen und Statements von Politikern und Experten zur Lieferung der Taurus-Marschflugkörper aus deutschen Beständen an die Ukraine. Diese reichen mit 500 km weiter als die 250 km, die französische und britische Marschflugkörper fliegen können. Damit wäre aber auch die russische Hauptstadt Moskau in Reichweite. Die Warnungen aus Russland an Deutschland werden zunehmend unmissverständlich. Eine Situation, in der Leopard-Panzer nochmals vor Moskau stehen, wird es nicht geben, so Putin. In diesem Kontext sind auch Verletzungen des NATO-Luftraums in Polen und in der Ostsee durch russische Raketen und Flugzeuge während der letzten Tage zu sehen.
Europawahlen – das Schlachtfeld im Inneren
Bei der in wenigen Wochen anstehenden Europawahl in den Ländern der EU zeichnen sich erdrutschartige Verschiebungen ab. Die grossen Gewinner werden wohl konservative und rechtsextreme Parteien sein. Die Verlierer dagegen grüne, liberale und linke Parteien. Die Verschiebung hatte sich bereits in den letzten Jahren abgezeichnet. Selbst in Portugal, lange das einzige EU-Land ohne rechtspopulistische Partei, hat sich das Blatt gewendet. Nun ist eine solche Partei an der Regierungsbildung beteiligt. Die rechtspopulistischen Parteien Europas wie in Frankreich und Deutschland sind Putin-freundlich, verdeckt oder offen von Moskau finanziert, wollen im Fall des Wahlerfolgs aus der EU und der NATO austreten und sind bereits heute ein Aktivposten in der von Russland gesteuerten Zersetzung der Kohäsion, die kennzeichnend für die Politik in Europa während der letzten Jahrzehnte war. Die Unterwanderung in den europäischen Ländern ist fortgeschritten und bedeutend. Ein aktueller Fall ist die vor Ostern aufgedeckte Propaganda- und Desinformations-Plattform «Voice of Europe» durch den Geheimdienst Tschechiens. In einem weiteren Fall wurde dieser Tage ein österreichischer Geheimdienstmitarbeiter mit Verbindung zum Wirecard-Spionage-Komplex verhaftet.
Geschlossene Gesellschaften
In den Niederlanden zeigen sich bereits die Schattenseiten der rechtspopulistischen Agitation. Der Weltmarktführer ASML plant den Bau der nächsten Fabrik in Frankreich, weil in den Niederlanden vor allem wegen der mittlerweile stark eingeschränkten Zuwanderung keine Fachkräfte mehr zu finden sind. Ob es in Frankreich besser sein wird, nach den nächsten Wahlen, bleibt abzuwarten. Die Probleme der EU sind gewachsen. Selbst wo Fortschritte erzielt wurden, wird nun zurückgerudert. Der Konsens schwindet. Dies zeigt sich besonders deutlich an den bereits beschlossenen Massnahmen zum Schutz der Natur. So war vereinbart, dass 20% der Land- und Meeresfläche mit zeitlichem Horizont 2030 vollständig sich selbst überlassen werden. Das ist wenig genug, doch der absoluten Minderheit der Bauern und ihrer Lobby ist es gelungen, auch dieses bescheidene Ziel zu kippen. Plötzlich ist die Mehrheit der EU-Länder nicht mehr dafür. Dabei weist alles darauf hin, dass die unheilige Allianz aus Agrar-und Chemie-Lobbyisten sowie den politisch reaktionären Teilen der Landwirte fremdgesteuert ist, um so einen Bruch der EU-Umweltpolitik und ihrer Glaubwürdigkeit herbeizuführen.
Lobbyisten bestimmen Politik
Genau so war es schon bei den geplanten, längst überfälligen Einschränkungen und Verboten von toxischen Pestiziden. Der Druck der Lobby war übermächtig, und grosszügige Einflussnahme auf die stimmberechtigten Abgeordneten half, die Mehrheiten zu verändern. Pech für Bienen, Insekten allgemein, die Vögel und Amphibien, die sich von ihnen ernähren und natürlich für den Menschen, der mehr und mehr einem toxischen Cocktail von Zehntausenden weitgehend unerforschten Chemikalien ausgesetzt wird. Und ähnlich ist es auch mit Blick auf die Verringerung und Verbote von Plastik – auch hier gibt es eine Lobby mit tiefen Taschen und bester Vernetzung mit Politik und Entscheidungsgremien. Die Unternehmen der petrochemischen Industrie drohen unverhohlen mit der Abwanderung, beispielsweise nach China, wo sie mit weit offenen Armen empfangen werden.
Trumps Drohungen
Vieles läuft also auseinander, manches gerät ausser Kontrolle, und Kumulationseffekte sowie die Entstehung neuer Dilemmata potenzieren alles, was schieflaufen könnte. Allein die Tatsache, dass Trump als überführter Finanzbetrüger und Anstifter zum Aufruhr als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen zugelassen wird, zeigt wie tief die «Demokratie» in den USA abgesunken ist. Das wird in einem aktuellen Vergleich mit dem Entwicklungsland Südafrika erkennbar. Der frühere Präsident Zuma (2009-2018) ist von der Kandidatur für die anstehende Präsidentenwahl ausgeschlossen. Die Gründe für seinen Ausschluss sind vergleichsweise bescheiden. Es zeigt aber, dass Südafrika, trotz allem, eine funktionierende Demokratie ist und die USA eben keine mehr sind. Und das ist auch, was Trump und seine Unterstützer offen anstreben: eine Diktatur. So gesehen begeben sich die Medien mit ihrer insgesamt immer noch unkritischen, wohlwollenden Berichterstattung in die Funktion des Steigbügelhalters für den kommenden Diktator. Trump lässt ja keinen Zweifel: «Wenn ich nicht gewählt werde, wird es ein Blutbad im ganzen Land geben.» Geht es noch deutlicher?
Prognoseunsicherheiten
In einem solchen Szenario sind Konjunkturprognosen schwierig, weil wichtige Faktoren wie Konsum- und Investitionsneigung, Kosten der Aufrüstung, Steueraufkommen und Staatsquoten, Zinsniveau uvm. sehr schnell kollabieren respektive eskalieren können. Die trügerische Sicherheit, in der sich der Grossteil der Bevölkerung durch die Gegenpropaganda von Politik, digitalen Echokammern und staatstragenden Medien wähnen, bildet eine extrem brüchige soziale Basis, die extrem anfällig für destruktives Herdenverhalten ist, wie der von Trump initiierte Sturm aufs Capitol.
Leere Versprechen
Brüchig ist auch die Infrastruktur in den USA. Der Einsturz der Brücke von Baltimore führt zur Schliessung des Hafens für viele Monate. Ein Symbol der Fragilität. Hätte Trump seine Wahlversprechen während der ersten Amtsperiode eingehalten – 1000 Mrd. USD Investitionen in die Infrastruktur – wäre die Brücke wohl nicht zusammengebrochen. Die Wähler haben es vergessen. Deshalb kann Trump nun alle Masken fallen lassen. Das Verwunderliche dabei ist, dass alle Lektionen der Geschichte zu Gewaltherrschaft, Repression, Kriegslüsternheit und Machtkonzentration aus dem kollektiven Gedächtnis eliminiert sind – selbst die Ziele, für die Amerikaner in den beiden Weltkriegen Leben verloren haben.
Wie werden die Börsen 2024 laufen?
An der Börse bleiben die Risiken fürs Erste ausgeblendet. Die Zinssenkungshoffnungen der Anleger scheinen sich nun endlich zu erfüllen. Wie aber die Reaktionen auf eskalierende Kriegshandlungen ausfallen werden oder auf die Wahlergebnisse in der Festung EU sowie auf den Wahlausgang in der US-Präsidentschaftswahl, bleibt offen. Die Unsicherheiten machen es unwahrscheinlich, dass die politische Börse 2024 kurze Beine hat, wie ein beliebtes Börsen Bonmot lautet. Tektonische Verschiebungen im Parteienspektrum, ein diktatorischer greiser Präsident der Superpower USA und der Übergang von der Friedens- zur Kriegswirtschaft werden für mehr als nur Fussnoten in Studien und Analysen sorgen. Ein klarer Ausdruck dessen sind Höchstpreise für Gold, rapide steigende Preise für Kryptowährungen und gleichzeitig ein starker USD – alles Zeichen der Flucht in sichere Häfen, die sich aber auch erst noch als richtig erweisen müssen. Reale Werte wie Gold und auch sonstige Rohstoffe werden so oder so gebraucht, Gewerbeimmobilien und sonstiges Betongold nach den aktuellen Preisentwicklungen zu urteilen eher nicht
Nichts ist mehr sicher, wenn das Irrationale um sich greift und das Verhalten der Massen prägt. Was für Rationalisten kaum nachvollziehbar ist, erklärt Le Bon, der erste, der sich fundiert mit der Psychologie der Massen beschäftigt hat, so: «Die Hauptmerkmale des in der Masse befindlichen Individuums sind: Schwund der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft der unbewussten Persönlichkeit, Orientierung der Gedanken und Gefühle in derselben Richtung durch Suggestion und Ansteckung, Tendenz zur unverzüglichen Verwirklichung der suggerierten Ideen. Das Individuum ist nicht mehr es selbst, es ist ein willenloser Automat geworden.»