Marc Reinhardt: «Im Ringen um Nachwuchs und passende Zuwanderer hat die Schweiz gute Karten»

Angespannte Lage treibt deutsche KMU dazu, ihre Heimat zu verlassen

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Marc Reinhardt, M&A-Spezialist bei Marktlink. Er ist Managing Partner und Standortleiter in Zürich, einer von zwölf Standorten in Europa des Beraters für Unternehmenstransaktionen. Bild: zvg

Verabschiedet sich der deutsche Mittelstand? Im nördlichen Nachbarland ist die wirtschaftliche Stimmung schlecht. Verschiedene, alteingesessene Traditionsunternehmen kehren der Bundesrepublik den Rücken und orientieren sich neu. Dabei geht der Blick meist nach Osteuropa – doch der baden-württembergische Werkzeughersteller Stihl lässt aufhorchen. Der Hersteller von motorbetriebenen Geräten für die Forst- und Bauwirtschaft prüft die Verlagerung der Fertigung in die Schweiz. Das Gesamtpaket aus steuerlicher Belastung, Lohnnebenkosten, Energiepreisen, Genehmigungsprozessen und den Kosten für die Arbeitsstunde machten die Schweiz attraktiv, hält die Stihl-Geschäftsleitung fest. Schweizeraktien.net unterhielt sich mit Marc Reinhardt, Managing Director bei Marktlink, darüber, ob die Schweiz eine Alternative für spezialisierte, deutsche Mittelständler wird – und ob es zu einer Übernahmewelle kommt. Marktlink ist ein europäischer Experte für KMU-Beratungen im Bereich Fusionen und Übernahmen (M&A) mit 17 Standorten in Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, England, Belgien und der Schweiz.

Herr Reinhardt, Deutschland ist für Unternehmen wegen dem Gesamtkostenkonstrukt aus Abgaben, Steuern und Energiekosten kaum mehr wettbewerbsfähig. Wäre das durch einen Regierungswechsel umkehrbar?

Marc Reinhardt: Ein Regierungswechsel kann die Wirtschaftspolitik beeinflussen und damit auch die Rahmenbedingungen für Unternehmen verändern. Die Wirksamkeit solcher Änderungen hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab, wie unter anderem den politischen Prioritäten und Entscheidungen, der Nachhaltigkeit der Massnahmen aber auch den aussenpolitischen Einflüssen. Die Gretchenfrage der deutschen Wirtschaftspolitik lautet derzeit, wie hältst du es mit der Energie? – Viele Kritiker befürchten, dass die Kosten der Energiewende dafür sorgen, dass Strompreise über Jahre einen massiven Wettbewerbsnachteil mit sich bringen. Hier besteht auch keine Möglichkeit, kurz- und mittelfristig viel auszurichten.

Was ist ausschlaggebend, dass mittelständische Unternehmen sich entschliessen, Deutschland den Rücken zu kehren?

Solche Entscheidungen sind oft das Ergebnis einer Kombination aus wirtschaftlichen Überlegungen, strategischen Zielen und äusseren Umständen. Man denke hier an Aspekte wie Kostenstrukturen, Arbeitsmarkt sowie die dafür geltenden Gesetze, die geografische Ausrichtung der Kunden, Subventionen oder aber wirtschaftliche und politische Stabilität. In Deutschland werden die komplexe Administration, die hohen Energiepreise und hohe Abgaben zu einem Risiko für den Standort.

Wenn sich ein deutsches Unternehmen zum Umzug entschliesst, werden die Zelte komplett abgebrochen, oder bleibt ein Teil der Verwaltung, der Holding-Sitz o.ä. in Deutschland?

In der Regel verbleibt ein Teil der Unternehmensstruktur in Deutschland, aus verschiedenen strategischen und auch praktischen Gründen, diese können verwaltungstechnischer, historischer oder logistischer Natur sein. Mit der Wertschöpfung verlässt jedoch ein grosser Teil der Arbeitsplätze das Land.

Was nehmen diese Unternehmen alles mit – Management, Know-how, Facharbeiter, Maschinenpark, Zulieferer…?

Natürlich muss man hier auf den Einzelfall schauen. Typische Elemente sind Management, technisches Know-how, Fachkräfte, Maschinen sowie Produktionsprozesse und häufig auch die Zuliefererlogistik.

Was macht Osteuropa für deutsche Unternehmen attraktiv – und welche Länder werden bevorzugt?

In der Regel sind klassische Kostenvorteile ausschlaggebend. Zwar ist das Lohngefälle nicht mehr so gross, aber der Punkt Energie spielt für viele Player eine zentrale Rolle. Osteuropa punktet ferner mit geografischer Nähe, qualifizierten Fachkräften, wachsenden lokalen Märkten sowie hie und da Investitionsanreizsystemen. Das sogenannte Nearshoring ist auch eine Lehre der Covid-Krise. Es muss nicht immer direkt Südasien sein, der Mix in Osteuropa ist durchaus attraktiv, zumal die Infrastruktur gerade in Ländern wie Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien inzwischen gut ausgebaut ist. Derzeit kommt ausserdem hinzu, dass viele Unternehmen die Unwägbarkeiten des Nahost-Konflikts in ihren Abwägungen stärker berücksichtigen – die wichtigen Passagen zwischen Ost und West wie der Suezkanal sind weiterhin im Fokus.

Der baden-württembergische Werkzeughersteller Stihl prüft den Ausbau der Fertigung in die Schweiz; was sind die Gründe?

Gründe liegen wohl vor allem in der Innovationskraft der Schweiz, der Qualität mit dem Prädikat «made in Switzerland», ferner punktet das Land durch wirtschaftliche Stabilität, steuerliche Attraktivität und die geografische Lage. Aufsehen erregt der Gang über die Grenze von Stihl auch deshalb, weil die Schweiz natürlich als Hochlohnland gilt. Doch für das Unternehmen überwogen Vorteile hinsichtlich der Administration, staatlichen Abgaben sowie der Energiepreise.

Gibt es neben Stihl noch weitere deutsche Unternehmen, die den Weg in die Schweiz suchen?

Die Expertise der Schweiz in den Bereichen Forschung, Pharmazie oder auch Automatisierungstechnologie hat in der Vergangenheit auch schon die ganz grossen Player wie Bayer oder Siemens mit grösseren Niederlassungen in die Schweiz gelockt.

Ist der Fachkräftemangel in der Schweiz nicht abschreckend?

Viele Industrieländer werden aufgrund von Fachkräftemangel auf die Probe gestellt. Im Ringen um Nachwuchs und passende Zuwanderer hat die Schweiz jedoch gute Karten. So punktet der Standort mit hohen Ausbildungsstandards. Und auch die hohe Lebensqualität lockt, hinzu kommt eine aktive Einwanderungspolitik für Fachkräfte. Nicht zu unterschätzen ist ausserdem der bereits recht hohe Automatisierungsgrad und Technologieeinsatz in der Schweiz, hier besteht sicherlich weiteres Potenzial.

Viele Industrieländer werden aufgrund von Fachkräftemangel auf die Probe gestellt

Ist die Länderauswahl je nach Branchen spezifisch? Für welche ist die Schweiz eine Alternative, für welche nicht?

Die Attraktivität der Schweiz als Standort für Unternehmensansiedlungen variiert nach Branche. Hohe Attraktivität ist u. a. gegeben für Pharmazeutik und Biotechnologie, Finanzdienstleistungen, Uhren- und Mikrotechnologie. Generell ist der Standort bekannt für seine Luxusgüter und die High-End-Produktion. Voll im Trend liegen ausserdem die Bereiche Renewables sowie IT. Weniger prädestiniert ist das Land für Massenfertigung sowie die Schwerindustrie.

Werden deutsche Unternehmen wegen der ungünstigen Rahmenbedingungen vermehrt Übernahmeziele – oder ist es gar umgekehrt: Deutsche Mittelständler versuchen über Zukäufe «ausländisch» zu werden?

Für viele Schweizer Unternehmen stellen deutsche KMU attraktive Targets dar, aufgrund ihrer oft hohen Innovationskraft und starken Position in verschiedenen Industriezweigen sowie der Positionierung in einem grösseren Markt im Vergleich zur Schweiz. Deutschland hat eine robuste Wirtschaft, aber es gibt auch Herausforderungen wie hohe Arbeitskosten, strenge Regulierungen und manchmal langsame digitale Infrastrukturentwicklungen, die die Wettbewerbsfähigkeit beeinflussen könnten. Auf der anderen Seite haben deutsche Mittelständler eine lange Tradition der Expansion durch strategische Akquisitionen im Ausland. Dies geschieht oft, um neue Märkte zu erschliessen, das Produktportfolio zu diversifizieren oder Zugang zu neuen Technologien zu erhalten. Aktuell schauen Schweizer wohl eher nach Norden.

Es gibt aber auch die umgekehrte Bewegung, so baut die Schweizer Ypsomed im ostdeutschen Schwerin die Produktionskapazitäten aus. Was sind die Beweggründe?

Vorteile sehe ich hier durch den attraktiven Marktzugang. Das Unternehmen ist zuletzt massiv gewachsen und befindet sich in einer attraktiven Nische. In Ostdeutschland kommen ausserdem häufig noch Kostenvorteile zum Tragen – denkbar sind ferner Fördermassnahmen durch die Politik.

Gerade bezüglich Lohnnebenkosten sieht es wegen der 13. AHV-Rente und der Krankenkassenprämien-Entlastungsinitiative in der Schweiz nicht rosig aus. Wird das zur Belastung?

Höhere Beiträge für Arbeitgeber aber auch Arbeitnehmer stellen eine wachsende finanzielle Belastung für Unternehmen dar. Die Schweiz ist jedoch dafür bekannt, auch diese Herausforderungen zu meistern. Die Weichen stehen auf Effizienzsteigerungen mittels neuer Technologien, Automatisierungen und flexiblere Arbeitsmodelle. Wie genau die Finanzierung der 13. AHV-Rente und der Entlastungsinitiative vollzogen werden soll, ist zudem noch ausstehend.

Welche Chancen sehen Sie für den Standort Schweiz in diesem Standortwettbewerb?

Die Schweiz kann hier einige Argumente ins Feld führen. Angefangen von den stabilen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen. International ist das Land bekannt für Innovationskraft und Forschung, auch über die Qualifizierung vieler Arbeitskräfte gibt es wenig Zweifel. Förderlich sind zudem die zentrale Lage in Europa, die multilinguale und multikulturelle Arbeitsumgebung. Und last but not least – die Schweiz punktet natürlich mit attraktiven steuerlichen Anreizen. Chancen bestehen sicherlich durch den Fokus auf High-Tech und Spezialbranchen, gezielte Innovationsförderung und Themen rund um Nachhaltigkeit.

Es gibt gewisse Tendenzen zum Nearshoring, um Lieferketten zu diversifizieren und zu verkürzen

Sind Produktionsverlagerungen in Übersee oder nach China wegen Lieferengpässen und der Geopolitik endgültig passé?

Es gibt gewisse Tendenzen zum Nearshoring, um Lieferketten zu diversifizieren und zu verkürzen. Vollständige Verlagerungen sind sowieso nicht die Regel, zu gross ist die Sorge vor unbeabsichtigtem Technologietransfer. Auch Kostenpunkte sind nicht mehr so dramatisch wie noch vor Jahren. Spezialisierte Industrien zögern daher, den grossen Schritt zu wagen.

Marc Reinhardt, auch im Namen unserer Leserinnen und Leser: Vielen Dank für das Interview.

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