Seit 2014 existiert ein Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China. Die Folgen für die Schweiz waren eine riesige Päckchenflut chinesischer Online-Händler und zahlreiche Übernahmen heimischer Schweizer Unternehmen durch chinesische Firmen. Umgekehrt profitierten auch Schweizer Firmen in China. Doch nun gerät Chinas Wirtschaftsmotor ins Stottern.
Der komentenhafte Aufstieg
Im Internet tobt ein wahrer Propagandakrieg um China. Bilder von Armut und Elend auf Chinas Strassen stehen im scharfen Kontrast zu bunten Statistiken, die signalisieren sollen, dass Chinas Erfolgsgeschichte ungebrochen weitergeht. Damit stellen sich Fragen dazu, wo China heute eigentlich steht, wohin die wirtschaftspolitische Reise gehen dürfte, was die Zukunft bringt und was dies alles für Schweizer Unternehmen bedeutet, die wirtschaftliche Verbindungen zu China pflegen.
Chinas kometenhafter Aufstieg zu einer der führenden Wirtschaftsmächte löste Bewunderung, Argwohn und Neid bei vielen Beobachtern aus. Die angestrebte Wiedervereinigung mit Taiwan führte gar zu Panik in den Gängen des Pentagon. Nicht etwa, weil Washington das Schicksal der Taiwanesen besonders am Herzen liegen würde. Vielmehr liegt die von Festlandchina abtrünnige Insel als unsinkbarer Flugzeugträger ideal, um eine militärische Drohkulisse aufrechtzuerhalten. Von Taiwan aus hat man die Millionenstädte an der chinesischen Küste fest im Visier. Auch sonst kommen die geopolitischen Ambitionen Chinas den US-Strategen mächtig in die Quere – von den Philippinen über die Arktis bis nach Afrika. Diese Aus- oder sogar Überdehnung der sicherheitspolitischen Ambitionen Chinas bleibt nicht ohne Spuren für die heimische Wirtschaft.
Leere Hochhäuser und arbeitslose Jugendliche
Der Fluch der chinesischen Geisterstädte belastet den Immobilienmarkt, der heimische Konsum zumindest einiger Bevölkerungsanteile in China ist gesunken, die Arbeitslosenquote gestiegen und die demografische Entwicklung im Reich der Mitte sieht nicht rosig aus. Doch wie diese Faktoren genau zu beziffern sind, ist fraglich. Einen mehr als deutlichen Hinweis zeigte jedoch das Halbjahresergebnis von Swatch, denn der Uhrengigant erlitt wie andere europäische Hersteller von Luxusgütern auch einen massiven Dämpfer durch den Nachfragerückgang in China. Pünktlich zu Beginn des Dritten Plenums der Kommunistischen Partei wurde das BIP-Wachstum für das zweite Quartal veröffentlicht. Mit 4,7% lag es unter den Erwartungen, womit der Druck auf die Regierung wächst, endlich zu handeln.
Ein neuer Staatsfonds für die Halbleiterindustrie soll nun Chinas Wirtschaft resilienter gegen Handelsrestriktionen machen. Eine resiliente Wirtschaft ist für China wichtig, denn China und seine wichtigsten Handelspartner überbieten sich derzeit mit gegenseitigen Strafzöllen, was die Lage noch unübersichtlicher macht. Insgesamt gibt es keine einfache Antwort auf die Frage, wo Chinas Wirtschaft heute steht. Wie umstritten die statistischen Zahlen aus China sind, zeigt sich schon daran, dass Wissenschaftler anzweifeln, ob China im Jahr 2021 tatsächlich rund 1.41 Mrd. Einwohner hatte und ob die Zahl nicht um einige hundert Millionen Menschen tiefer bei «nur» 1.28 Mrd. Einwohner liegt. Dazu passend kursieren Videos von chinesischen Grossstädten, die menschenleer zu sein scheinen.
Wo sind all die Menschen?
Eine deutlich geringere Bevölkerung hätte wiederum enorme Auswirkungen auf alle anderen veröffentlichten Wirtschaftsdaten. Betroffen von niedrigeren Bevölkerungszahlen wären womöglich auch die Schweizer Firmen Sonova und Ypsomed, die als Hersteller von Hörgeräten und Insulinpumpen in Zukunft eine deutlich steigende Nachfrage aus China erwarten. Laut offizieller Statistik sollen bis zum Jahr 2030 rund 400 Mio. Menschen in China über 60 Jahre alt sein. Doch vielleicht sind es in Wirklichkeit viel weniger Menschen. Die Erfahrung, dass China kein einfacher Markt sein kann, musste bereits Schindler machen. Denn obwohl die weltweite Aufzugsbranche einen Drittel ihres Umsatzes in China macht, beträgt der Umsatzanteil von Schindler in China nur rund 15%, und dieser Anteil soll nun ausgebaut werden.
Potenziale nutzen – aber mit Vorsicht
Trotz aller Unsicherheiten bleibt das Potenzial für Schweizer Unternehmen in China gross, schliesslich ist das Reich der Mitte der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz, und das bestehende Freihandelsabkommen soll jetzt weiter ausgebaut werden.
Ein weiterer wichtiger Faktor in den Wirtschaftsbeziehungen ist der Tourismus: Schweizer profitieren vom Wegfall der Visumpflicht bei kurzen Chinareisen, und die Schweizer Tourismusindustrie wartet im Gegenzug auf Touristen aus China. Immerhin war die Schweiz im Jahr 2023 die Nummer sieben unter den zehn wichtigsten Tourismusdestinationen für Reisende aus China. Die Flugkapazitäten nach Europa haben sich auch seit COVID-19 wieder weitgehend normalisiert. Allerdings scheinen chinesische Touristen weniger Geld für Shopping ausgeben zu wollen als vor der Pandemie, dafür aber mehr für Übernachtungen. Dennoch dürfte sich auch der Tourismussektor vorerst noch verhalten entwickeln. Die Anzahl der Logiernächte von chinesischen Gästen in der Schweiz hat sich im Zeitraum von Januar bis Mai 2024 zwar mehr als verdoppelt, liegt mit 231’556 (Vorjahr: 104’924) allerdings immer noch auf Platz Nr. 7 unter den Herkunftsländern und weit abgeschlagen hinter den USA (1.0 Mio.).
Welches Fazit lässt sich also ziehen? Es wäre falsch, Chinas Potenzial zu unterschätzen. Für Unternehmen aus der Schweiz dürfte China noch lange ein attraktiver Markt bleiben. Allerdings ist auch Chinas Wirtschaft nicht mehr vor Rückschlägen sicher, und Investoren sollten die rosarote Brille ablegen. Chinas Wirtschaft dürfte in eine Phase langsameren Wachstums übergehen. Geopolitisch ist zu erwarten, dass China sich in Zukunft mehr aus der EU zurückzieht. Dies könnte eine Chance für Schweizer Unternehmen sein.