Mancher greift sich an den Kopf, und kann es doch nicht fassen. Wie kann das sein, dass schon lange krisenhafte Nachrichten aus Wirtschaft und Unternehmen in Deutschland die Schlagzeilen prägen – und der Leit-Index DAX trotzdem haussiert und Rekordstand auf Rekordstand folgt?
Am 18. Oktober war es wieder einmal soweit: Mit 19’674 Punkten erreichte der deutsche Leitindex DAX einen neuen historischen Rekordstand. Seit dem Zwischentief bei 12’114 Punkten im September 2022 kennt das Börsenbarometer nur eine Richtung: nach oben. Das historische Hoch von Anfang 2022 wurde bereits im Mai 2023 überboten. Im laufenden Jahr beläuft sich die Performance auf gut 16%, in den letzten 12 Monaten auf beachtliche 30,7%! Und auch auf 5-Jahressicht beeindruckt der Anstieg von 51%.
DAX-Performance im Vergleich
Zum Vergleich: Der französische CAC-40 hat 2024 per saldo 0,5% verloren, die 1-Jahresperformance beträgt eher magere 10%. Der Schweizer SPI erzielte eine 1-Jahresperformance von 19%, der italienische Mibtel von 27%. Das Verblüffende ist, dass nirgends die Wirtschaftsdaten schlechter als in Deutschland sind. Nach zwei Quartalen mit schrumpfendem BIP ist die deutsche Wirtschaft offiziell in einer Rezession! Die BIP-Prognosen für 2025 wurden abgesenkt. Sogar die fragwürdige Auszeichnung als «kranker Mann Europas» geistert durch den Blätterwald, die in der Vergangenheit für Krisenländer wie Italien oder Griechenland reserviert war.
Market Cap und Indexgewichtung
Für den scheinbaren Widerspruch sind mehrere Faktoren verantwortlich. Rein technischer Natur ist die Erweiterung um 10 Titel auf 40 Aktien. Der Performance-Index DAX ist zudem an der Marktkapitalisierung der Bestandteile ausgerichtet. Fällt diese bei einzelnen Aktien, folgt bei periodischen Revirements ein «Down-Grading» in den Mid-Cap Index MDAX oder den Small-Cap Index SDAX. Es rücken dann Aktien von Unternehmen nach, die mit Blick auf Handelsqualität und Marktkapitalisierung gegenüber den Absteigern an Bedeutung gewonnen haben.
Star-Performer SAP
Auch wenn der Leit-Index DAX die grössten Unternehmen des Landes abbilden soll, die Unterschiede sind doch gewaltig. So liegt die Market Cap von SAP mit 254 Mrd. Euro inzwischen höher als die aller deutschen Automobil-Konzerne zusammen! Als stetiger Performer kann SAP also allein die kollektiven Kursverluste von BMW, VW, Mercedes und Porsche überkompensieren. In den letzten 12 Monaten kletterte die SAP-Aktie um 77%.
Die DAX-Gewinner
Andere starke Performer in den letzten 12 Monaten sind Siemens Energy mit 241%, Rheinmetall mit 89% und MTU Aero Engines mit 77%. Auch der Finanz-Sektor ist ein Zugpferd der DAX-Performance. Deutsche Bank stieg um 66%, Commerzbank um 62%, Allianz um 35%, Münchener Rück um 27% und Hannover Rück um 20%. Mit einer Marktkapitalisierung von 141 Mrd. Euro ist Siemens ein Schwergewicht, die Aktie legte um 41% zu. Die Deutsche Telekom kommt auf eine Börsenbewertung von 140 Mrd. Euro, der Kursanstieg im vergangenen Jahr liegt bei 39%.
Bayer ist grösster Verlierer im DAX
Von den 40 Titeln im DAX zeigen 31 eine positive Jahres-Performance. Grösster Verlierer ist Bayer mit einem Kurseinbruch von 38%. Der aktuelle Kurs von unter 26 Euro bewegt sich auf dem tiefsten Niveau seit 2005. Das Hoch war 2015 mit 146 Euro erreicht worden. Da die Marktkapitalisierung auf nur noch 25.3 Mrd. Euro geschrumpft ist, belastet der Kurszerfall der Bayer Aktie die Index-Performance nur wenig. Unter den schlechtesten Performern finden sich vor allem die berühmten Auto-Hersteller mit Verlusten zwischen 5% und 20%. Auch hier ist die Auswirkung auf die Index-Performance beschränkt. BMW kommt noch auf 43 Mrd. Euro, VW auf 19 Mrd. Euro. Ansonsten finden sich die Aktien des Chemieunternehmens Brenntag mit 10% Kursrückgang und des Versorgers RWE mit 12% Kursrückgang unter den Verlierern. Die Market Cap von Brenntag ist 9 Mrd. Euro, die von RWE 23 Mrd. Euro.
Automobil- und Chemie-Industrie als Risiko
Bedenkt man die volkswirtschaftliche Bedeutung von Chemieindustrie und Automobilindustrie für Deutschland und auch die weltweite Bekanntheit und Bedeutung von Marken wie Mercedes und BMW, so erklären sich die potenziell gravierenden Auswirkungen auf Beschäftigungslage und Steueraufkommen selbst. Die ersten Tabus sind gebrochen. VW beispielsweise hat die Beschäftigungsgarantie aufgegeben.
Nur 18% Inlandumsatz der DAX-Werte
Ein ganz anderer Punkt, der die starke Performance des deutschen Leit-Index DAX gut erklären kann, ist die Tatsache, dass, trotz aller Krisensignale, Deutschland immer noch der Export-Champion ist. Folglich sind auch im Leitindex vor allem international aktive Unternehmen vertreten. Tatsächlich entfallen bei den 40 DAX-Unternehmen nur 18% der Umsätze auf den Heimatmarkt und entsprechend 82% auf internationale Märkte! Zum Vergleich: Bei der zweiten Liga der Unternehmen im MDAX werden dagegen schon 33% der kollektiven Jahresumsätze im Inland erzielt. Insofern spiegelt sich im DAX, der ohnehin von ausländischen institutionellen Investoren dominiert wird, weniger das Geschäft im Heimatmarkt ab, sondern hauptsächlich die Konjunkturperspektiven in den wichtigsten Nachfrageregionen wie USA, Frankreich, China, Japan und den zahlreichen aufstrebenden Ländern wie Indien und Brasilien wider.
Risiken für den Export-Weltmeister am Horizont
Was traditionell eine Stärke der deutschen Wirtschaft war – die tiefe Einbettung in die globalen Wirtschaftskreisläufe – droht nun zu einem existenziellen Risiko zu werden. Sollte Trump erneut zum US-Präsidenten gewählt werden, ist mit einer protektionistischen US-Wirtschaftspolitik zu rechnen. Zölle erleben schon jetzt eine verbale Hochkonjunktur. «60% auf alles aus China», so Trump im Wahlkampf. Auf Importe anderer Länder will er pauschal Zölle zwischen 10% und 20% erheben. Wenn auch China der erklärte «Lieblingsgegner» des Kandidaten Trump ist, die hohen deutschen Exportüberschüsse mit den USA waren ihm schon in der ersten Amtszeit ein Dorn im Auge. 2023 beliefen sich die deutschen Exportüberschüsse auf 63.3 Mrd. Euro, im ersten Halbjahr 2024 auf 37.4 Mrd. Euro. In der Konsequenz würden deutsche Exportunternehmen wie BASF oder BMW ihre Produktion in den USA ausbauen, um so ihre Marktstellung zu behaupten – und entsprechend in Europa reduzieren. Als Folge der Erhöhung der US-Zölle könnte der Euro zum USD, so eine aktuelle Einschätzung von Goldman Sachs, um bis zu 10% abwerten, also unter die Parität fallen.
Parallelen und Unterschiede bei Leit-Indizes
Gute und passende Vergleiche machen nicht selten das scheinbar Unverständliche plausibel. Die Situation und die Struktur der Konstruktion der Leit-Indizes ist in Deutschland nicht so viel anders als in der Schweiz. Mit den drei Mega-Caps Nestlé, Roche und Novartis und deren hoher Gewichtung sind diese für die Index-Perfomance massgeblich. Ein wesentliche Unterschied ist, dass die Sektoren Nahrungsmittel und Pharma nicht-zyklischer Natur sind, weshalb die Schweizer Leit-Indizes relativ zu denen anderer Länder insbesondere in den Phasen des Konjunkturzyklus gut performen, die nicht von euphorischen Aufschwungtendenzen geprägt sind. Beim Export-Weltmeister Deutschland ist es genau umgekehrt, dort dominieren Exporteure wie Siemens, BASF und Mercedes. Gleich ist jedoch, dass die Umsätze der Index-Schwergewichte hauptsächlich ausserhalb des Heimatlandes erwirtschaftet werden. Und so erklärt sich auch, dass jeweils internationale institutionelle Investoren sowohl die dominierenden Anteilseigner sind wie auch den grössten Teil des Aktienhandels in Zürich und Frankfurt bestreiten.
Fazit
Indexologie ist eine Wissenschaft für sich. Das fängt schon damit an, dass Total Return-Indizes oft mit Kurs-Indizes verglichen werden, was, je nachdem, einen Unterschied von 2% bis 4% auf Jahresbasis macht. Bei solchen unstatthaften Vergleichen werden die Dividenden als Komponente der Gesamtrendite einfach ausgeblendet. Bei 10-Jahresvergleichen ist der Effekt exorbitant. Indizes sind auch nicht für die Ewigkeit konstruiert, sondern werden regelmässig angepasst. Die Kriterien variieren, doch Free-Float, Market Cap und Handelsvolumen spielen eine wichtige Rolle. Leit-Indizes sollen auch die Wirtschaft eines Landes entsprechend den bedeutenden Wirtschaftssektoren abbilden. Dann gibt es noch Phänomene wie den «Survivor Bias». Im ältesten Index der Welt, dem Dow-Jones 30, ist heute kein einziges Unternehmen aus der Anfangszeit mehr vertreten. Die Bedeutung von Stahl, Öl, Automobilen hat abgenommen, dafür sind Hardware und Software, Healthcare, Finanzdienstleistungen und Internet dazugekommen. Von den zahlreichen Unternehmen, die einst bedeutend waren und es heute nicht mehr sind oder die im Bankrott endeten oder übernommen wurden, sprechen heute nur noch Wirtschaftshistoriker.
Die scheinbar überragende Bedeutung der Indizes ist auch eine Erscheinung der jüngeren Vergangenheit. Lange war die Börse ein Markt der Aktien, heute ein Aktienmarkt. Noch in den 1980er Jahren waren Indizes kaum ein Thema für Anleger, heute gibt es für die meisten (passiven) Anleger kein anderes Thema. Es ist das zweifelhafte Verdienst der Produktkreatoren in der Finanzwirtschaft mit ihren stets neuen Themen- und Strategie-Indizes sowie sonstigen Schöpfungen aus der Retorte, dass dies so ist. Gerade zurzeit zeigt sich jedoch ganz offensichtlich an der divergierenden Kursentwicklung innerhalb der einzelnen Branchen und zwischen den Ländern, dass es für die erfolgreiche Performance der Investments eben doch vor allem darauf ankommt, die besten Aktien auszuwählen und auf Mitläufer zu verzichten.