Kurs-Desaster: Wie können Investoren Abstürze wie bei Pierer Mobility, Meyer Burger, AMS Osram oder DocMorris vermeiden?

Indikatoren und Frühwarnsignale für die Verlustvermeidung an der Börse

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Von Hochstimmung über Ungläubigkeit bis zur Niedergeschlagenheit: Die Börse machts möglich. Bild: stock.adobe.com

Euphorie ist ansteckend, das wissen Börsianer besser als die meisten Mitbürgerinnen und Mitbürger. Das Hochgefühl, das von steigenden Kursen und der richtigen eigenen Auswahl der Valoren ausgeht, ist einzigartig – solange es anhält. Doch was im Überschwang wie ein plausibler, ja überzeugender Investment Case scheinen mag, entpuppt sich oft auch als krasse Fehleinschätzung.

Es ist nichts Schlechtes an Euphorie. Ohne Zuversicht und Kursfantasie der Anleger würde die Börse als demokratischer Antizipationsmechanismus nicht funktionieren. Neben der Liquidität des «Markts der Märkte» ist es vor allem die Psychologie, die Kursveränderungen bewirkt. Und manchmal, in Phasen des irrationalen Überschwangs, entwickelt die kollektive Vorstellungskraft ein Eigenleben. Dies wurde in früheren Zeiten als «die Hausse nährt die Hausse» beschrieben.

Euphorie und Überschwang

Alles scheint den Akteuren möglich, solange die Kletterpartie anhält. In der jüngeren Vergangenheit ist die Ära der Internet-Hausse an der Nasdaq und den europäischen «Neuen Märkten» in Erinnerung geblieben. Auch die Hausse während der Covid-Pandemie hat teilweise stark irrationale Züge angenommen. Geschäftsmodellen oder Produkten, die durch die spezifischen Pandemie-Bedingungen temporären Aufwind verspürten, wurden in Extrapolationen sensationelle Marktwachstumsraten prognostiziert. Teilweise und zeitweilig prosperierten ja auch Lieferdienste, digitale Fitness- und Lern-Programme, Home Improvement, Homeoffice-Ausrüstungen und Ähnliches.

Vom starken Wachstum überfordert

Die Unternehmen, die sich plötzlich und unvorbereitet in «Sweet Spots» finden, sind jedoch nicht immer auf die spezifischen Herausforderungen dauerhaft starken Wachstums vorbereitet. Prozesse und Zuständigkeiten definieren, Rekrutierung, Marketing, IT, Beschaffung von Material und Kapital sind nur einige der dringlichen Erfordernisse. Publikumsgesellschaften können durchaus auch massivem Druck von Aktionärskreisen ausgesetzt sein, Opportunitäten zu nutzen, in die Expansion zu investieren, komplementäre Akquisitionen zu tätigen oder in einem Ausmass in die Produktion zu investieren, die sich als halsbrecherisch erweisen kann.

Kausalitätsketten werden zu Fallstricken

Wo einzelne Fehler eventuell noch korrigiert werden können, führt doch oft eine absehbare Ereigniskette dazu, dass ein Problem aus dem anderen erwächst. Zu ambitionierte Ausgaben führen oft zu einer Erhöhung des Fremdkapitals, und eine schwachbrüstige Bilanz wiederum zu höheren Zinssätzen. Ändert sich dann noch, wie seit 2022, das zuvor jahrelange Tiefzinsumfeld in ein wieder normales Zinsregime, kann es eng werden. Unternehmensentscheidungen folgen immer weniger der definierten Road-Map zum strategischen Ziel und immer mehr den praktischen Erfordernissen des täglichen Überlebens.

Divergierende Kursentwicklung

An der Schweizer Börse haben sich in der jüngeren Vergangenheit überraschend viele Kursdramen abgespielt. Im Oktober wurde die divergierende Kursentwicklung im Industrie-Sektor der SIX von ABB über Rieter und Stadler Rail bis Sulzer auf schweizeraktien.net untersucht.

Der lange Schatten von QE

Bei einigen Valoren sind die jüngsten Kursabstürze jedoch nur die Verlängerung eines seit Jahren negativen Trends. Dem ging jeweils eine Phase irrationalen Überschwangs bei der Kursbildung voraus, sodass das Niveau, von dem aus der Absturz erfolgen sollte, bereits deutlich überhöht war. Dabei spielte die monetäre Kunstwelt während der Pandemie eine zentrale Rolle, denn Kapital war und schien auch weiterhin praktisch kostenlos verfügbar. Geringe Finanzierungskosten sind das Eine, ein künstlich eingeschrumpfter Diskontierungssatz wie für zukünftige Cashflows und die daraus resultierende höhere Bewertung an der Börse ist das Andere.

Von 20 CHF auf 500 CHF und zurück

Das Beispiel DocMorris, vormals Zur Rose, verdeutlicht die rational kaum nachzuvollziehenden Kursschwankungen der letzten 10 Jahre. Zunächst seit 2008 auf OTC-X gehandelt, lag die Aktie jahrelang um die 20 CHF. Bis zum Börsengang an der SIX 2017 vervielfachte sich die Aktie auf 150 CHF. Bis zum vierten Quartal 2019 bröckelte der Kurs auf unter 90 CHF ab, nur um mit Beginn der Pandemie in einen vertikalen Steigflug überzugehen. Bis Februar 2021 schoss die Aktie auf über 500 CHF. Danach ging es abwärts. Trotz Erholungsbewegungen zwischendurch bewegt sich die Aktie aktuell nahe den Tiefstkursen bei nur noch 29 CHF. Im Februar 2023 war auf schweizeraktien.net eine kritische und detaillierte Aufabeitung unter dem Titel «Langfristige Bilanz» veröffentlicht worden.

Chart Doc Morris
Der Kurs der Aktie von DocMorris erlebte während der Corona-Pandemie einen Höhenflug. Chart: six-group.com

Wettlauf gegen die Zeit

Die mangelnde Fortune hat sich offensichtlich fortgesetzt, denn der Kurs steht jetzt 40% tiefer als im Februar 2023, wenn er auch im Februar 2024 kurzzeitig fast 100 CHF erreichte. Lange hatte Zur Rose im Digitalisierungswettlauf und der strategischen Expansion durch Zukäufe die Nase vorn, doch durch Verzögerungen bei der Liberalisierung, Deregulierung und Einführung des E-Rezeptes und gleichzeitig steigende Marketingaufwendungen und Fremdkapitalkosten lief die Zeit gegen Zur Rose. Zur Rettung wurde Anfang 2024 sogar die Cash-Cow – das Schweizer Geschäft – an Migros veräussert, um die Bilanz zu entlasten.

Änderungen müssen nichts Gutes bedeuten

Das Management, der Sitz der Gesellschaft und sogar der Name wurden geändert. DocMorris ist ein anderes Unternehmen als Zur Rose, und doch liegt das aktuelle KUV mit 0.4 auf dem tiefen Niveau der ausserbörslich gehandelten und weitgehend unbekannten Zur Rose von 2016! Die Market Cap von DocMorris beträgt noch 372 Mio. CHF. Es waren einmal 5 Mrd. CHF. Der einst an der Börse tiefer bewertete Konkurrent Redcare Pharmacy kommt inzwischen auf 2.9 Mrd. Euro. Die daraus resultierende Botschaft für DocMorris ist nicht ermutigend. Die heutige DocMorris droht sich im Digitalgeflecht aus Regulierung, Innovations- und Wettbewerbsdruck zerreiben zu lassen, ohne dass ein klarer Pfad zur nachhaltigen Gewinnerzielung erkennbar geworden ist. Die Aufwendungen bleiben hoch, während sich das Umsatzwachstum bei DocMorris in den ersten neun Monaten des Jahres im mittleren einstelligen Prozentbereich abspielt. Wenn finanzielle Zwänge den Takt vorgeben, Reorganisationen und Restrukturierungen daraus folgen und die strategischen Optionen sich auflösen, fehlt die belastbare Basis, um eine langfristig positive Fortführungsprognose zu stellen.

Wachstumsgeschichte Pierer Mobility

Ebenfalls für negative Schlagzeilen sorgt Pierer Mobility. Für die Aktie waren nach dem IPO Ende 2016 um die 50 CHF bezahlt worden. Das österreichische Unternehmen bedient die Märkte Fahrräder, E-Bikes und Motorräder und machte insbesondere durch die Erschliessug des phänomenal grossen Marktes in Indien auf sich aufmerksam. Nach einem Taucher auf unter 25 CHF zu Beginn der Pandemie 2020 erreichte die Aktie zum Jahreswechsel 2021/2022 Kurse von 95 CHF. Seit einem Zwischenhoch bei 85 CHF im März 2023 geht es jedoch steil abwärts. Zuletzt wurden sogar Kurse unter 8 CHF verzeichnet.

Chart Pierer Mobility
Der Kursverlauf der Aktie von Pierer Mobility verläuft stark gegen Süden. Chart: six-group.com

Zahlenwerk mit Alarmsignalen

Die Guidance für 2024 wurde am 21. Oktober gestrichen. Bis Jahresende soll geprüft werden, ob Wertberichtigungen vorgenommen werden müssen. Die Konsumnachfrage habe sich in den USA und in Europa abgeschwächt. Die Finanzziele für 2024 sind nicht mehr haltbar. Die Nettoverschuldung hatte sich 2023 gegenüber dem Vorjahr auf 757.9 Mio. Euro verdreifacht, wie die Key Figures von Pierer zeigen. Die EK-Quote sank auf 30,8%. Und der Free Cashflow fiel auf -413 Mio. Euro, nachdem er im Vorjahr fast ausgeglichen und in den Jahren davor positiv ausgefallen war. Die Anzahl der Aktien erhöhte sich 2021, im Jahr des Höchstkurses, von 22.54 Mio. Stück auf 33.80 Mio. Stück. Zum Jahreswechsel 2021/2022 belief sich die Marktkapitalisierung auf 3.2 Mrd. CHF.

Implosion der Marktkapitalisierung

Am 12. November meldete Pierer eine tiefgreifende Restrukturierung und zusätzlichen Liquiditätsbedarf. Demnach entfallen über 95% des Umsatzes von Pierer auf den Motorrad-Hersteller KTM. Benötigt wird ein dreistelliger Millionenbetrag. Hauptaktionär Pierer hält 75% der Aktien. Die Gespräche mit Kooperationspartnern wie dem indischen Konglomerat Bajaj und Gläubigern stehen erst am Anfang. Die Market Cap liegt aktuell bei 318 Mio. CHF. Am 22. November meldete die Gesellschaft, dass sie Medienberichte über Gespräche zum Einstieg des Red-Bull-Erben und reichsten Österreichers Mark Mateschitz bei Pierer dementiert.

Chart Meyer Burger
Die Aktie von Meyer Burger dümpelt seit Jahren auf tiefem Niveau vor sich hin. Chart: six-group.com

Innovationsführer wird zum Milliardengrab

Bereinigt um Splits und Zusammenlegungen stand die Aktie von Meyer Burger noch im Februar 2023 bei über 500 CHF. Daraus sind jetzt 0.37 CHF geworden. In der ferneren Vergangenheit hatte sich die Aktie 2007 und 2011 auch schon bei über 3000 CHF bewegt. Meyer Burger schrieb Technologiegeschichte, blieb jedoch stets ein kleiner Innovationsführer in einem Markt, der erst noch zum Massenmarkt werden sollte. In den frühen Jahren war Solarenergie wegen der hohen Inputkosten noch nicht wettbewerbsfähig und stark von wechselhaften Subventionsprogrammen abhängig. Als die Effizienzgewinne durch technologischen Fortschritt und höhere Stückzahlen absehbar machten, dass die Erzeugung von Solarenergie günstiger als die aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe werden würde, war dies die Geburtsstunde eines neuen Massenmarktes. China erkannte die Gelegenheit und baute in der letzten Dekade nicht zuletzt durch gekonntes Kopieren und Spionage eine stark subventionierte Solarwirtschaft auf, die den Weltmarkt dominieren sollte.

Ruinöser Subventionswettlauf

In diesem Spannungsfeld von Industrie- und Geo-Politik konnte sich Meyer Burger nicht behaupten. Die Entscheidung, Solarmodule selbst herzustellen und dieses Vorhaben mit prozyklisch von der grossen Politik diskutierten Subventionen zu finanzieren, hat sich, eigentlich erwartungsgemäss, als Irrweg erwiesen. Kennzeichnend sind Wechsel im Management sowie Schliessung von Produktionsstätten und gleichzeitig der Aufbau neuer Kapazitäten an anderen Orten. Als jetzt noch der letzte Kunde, der US-Kraftwerksbetreiber Desri, die Verträge kündigte, machte plötzlich das Wort von der «Uninvestierbarkeit» von Meyer Burger die Runde. Möglich ist zwar alles, doch es tut sich ein Abgrund auf, den die Kursentwicklung der letzten 20 Monate bereits in vielen kleinen und grösseren Schritten schmerzhaft vorweggenommen hat.

Kollaps auf Raten

Bei AMS Osram, ebenfalls mit österreichischem Hintergrund, sollte mit der Übernahme von Osram der grosse Wurf gelingen. Tatsächlich stieg der Umsatz von 2.1 Mrd. Euro in 2019 auf 5.4 Mrd. Euro in 2021. Letztes Jahr waren es jedoch nur noch 3.5 Mrd. Euro. Der letzte Gewinn wurde für 2019 ausgewiesen, 2023 belief sich der Verlust auf 1.6 Mrd. CHF. Die Eigenkapitalquote ist seit 2019 von 38% auf 25% zurückgegangen. Liest man den jüngsten Quartalsbericht, so lernt man viel über Spar-, Effizienzsteigerungs-, Restrukturierungsprogramme. Einen Hinweis auf die Lage gibt die Nachricht zur Privatplatzierung einer bis 2029 laufenden vorrangigen 200-Mio.-Euro-Anleihe zu 10,5%. Die Marktkapitalisierung ist auf 564 Mio. CHF zusammengeschrumpft. Nach einem Hoch von 374 CHF in 2018 ist die Aktie inzwischen bei 5.70 CHF angekommen.

Fazit

Manche Märkte sind anfälliger als andere für schwer kontrollierbare Faktoren wie die Subventionsaktivitäten von Ländern und Regionen oder die Regulierung neuer Anwendungen von digitalen Technologien. Es sind aber letzten Endes immer die Unternehmenslenker, die über die Nutzung von Opportunitäten und das Eingehen von Risiken und Abhängigkeiten entscheiden. Der gemeinsame Nenner der vier Beispiele besteht darin, dass, vielleicht zu blauäugig, zu grosse Investitionen in Zeiten getätigt wurden, als höhere Finanzierungskosten, Wettbewerbsintensivierung und Nachfrageschwächen noch weniger klar am Horizont erkennbar waren. Doch CEOs sind keine Alleinherrscher. Insofern stellt sich durchaus die Frage, was die relevanten Kontrollorgane im Lauf der Jahre gesehen, gehört und gesagt haben – oder auch nicht.

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