Mehr als alle anderen Märkte sind die Wertpapierbörsen global vernetzt. Im Reich der Börse geht die Sonne, abgesehen vom handelsfreien Wochenende, tatsächlich nie unter. Die Anleger verarbeiten neue Informationen in Real-Time und agieren international. Die Globalisierung bringt viele Vorteile, legt jedoch auch schonungslos Schwachstellen bloss. So wird für mehr Effizienz an den Kapitalmärkten gesorgt.
Im Alltagsgeschehen an der Börse bestimmen, so scheint es, neue Unternehmensmeldungen oder Auf- und Abstufungen von Aktien oder Sektoren durch Banken, Broker und Research-Boutiquen. Dabei geht es meist um hochkapitalisierte Werte wie UBS und Holcim oder Titel, die durch aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen thematisch in den Vordergrund gerückt werden. Beispiele hierfür sind Lonza als Contract Manufacturer und Bachem als spezialisierter Zulieferer während der Covid-Pandemie.
Herdentrieb auf hohem Niveau
Der intelligente Investor kennt die Marktmechanismen. Wenn plötzlich die «Coverage» bestimmter Small- und Mid-Caps von vielen professionellen Kapitalmarktakteuren gleichzeitig aufgenommen wird und sich dann Kurszielerhöhungen nahtlos aneinanderreihen, ist Vorsicht geboten. Die Kursverläufe von Bachem und DocMorris zeigen beispielhaft warum. Die Aktie des Peptid-Herstellers Bachem lag bei Ausbruch der Epidemie in China Ende 2019 bei 30 CHF, stieg dann jedoch sukzessive bis auf 171 CHF im Oktober 2021, also innert weniger als 2 Jahren. Seitdem kennt die Aktie trotz fortgesetzt positiver Einschätzungen nur die Richtung nach unten, von Erholungsversuchen abgesehen. Der aktuelle Kurs von 56 CHF bewegt sich auf dem Niveau, das erstmals im Juli 2020 überschritten worden war.
Aufstieg und Fall von DocMorris
Ähnlich ist das Muster bei DocMorris, vormals Zur Rose. Nach dem IPO 2017 war der Kurs von 150 CHF auf unter 100 CHF abgebröckelt – bis mit der Pandemie ab Ende 2019 ein Höhenflug einsetzte, der die Aktie bis Anfang 2021 auf über 500 CHF katapultierte. Es folgte ein langer und für die Aktionäre schmerzhafter Korrekturprozess, der auch von externen Faktoren wie der Erhöhung des Zinsniveaus und der Diskontierungssätze der zukünftigen Cashflows, Verzögerungen bei der Einführung des E-Rezeptes in Deutschland und der Wettbewerbsintensivierung geprägt war. Die strategische Vormachtstellung im europäischen Online-Apothekenversandhandel hat DocMorris offensichtlich zwischenzeitlich verloren.
Vom Hoffnungsträger zum Micro-Cap
Bis Mitte Dezember 2024 war die Aktie auf 25 CHF abgesunken, das bisherige Tief, das im November 2022 verzeichnet worden war. Doch es sollte nicht halten. Die deutsche Drogeriemarktkette DM verkündete den Einstieg in den Online-Apothekenversandhandel, was die DocMorris-Aktie und auch die des Konkurrenten Redcare Pharmacy abstürzen liess. Während DocMorris nun unter 20 CHF liegt, bewegt sich der Kurs von Redcare trotz der Korrektur um rund 200% über den Post-Covid Tiefständen. Die Market Cap ist mit 2.4 Mrd. Euro noch respektabel, die von DocMorris beträgt knapp 10% davon! Damit ist DocMorris in die Kategorie der Micro-Caps gewechselt.
Das Bemerkenswerte an «Himmelfahrt und Höllensturz» von ZurRose/DocMorris, wie schweizeraktien.net bereits vor 2 Jahren titelte, ist, dass die gesamte weitere Unternehmensentwicklung mit dem Zwangsverkauf der profitablen Schweizer Aktivitäten zur Bilanzsanierung von einem singulären und unkontrollierbaren Ereignis in einem Nachbarland abhängig gemacht wurden. Der jüngste Kursrutsch wegen der DM-Ankündigung ist gewissermassen nur der zuletzt gesetzte i-Punkt. Als ob nicht absehbar gewesen wäre, dass grosse Adressen wie Amazon oder auch DM-Markt mit ihrer logistischen Schlagkraft in den lukrativ werdenden Massenmarkt einsteigen würden. Nun wird eine weitere substanzielle Kapitalerhöhung durch DocMorris am Markt erwartet, obwohl das Management bei einer Investoren-Präsentation Anfang Januar hervorhob, dass keine kurzfristigen Liquiditätsengpässe drohen würden.
Finanzmarkt-Attraktivität
Wachstumsgeschichten, die sich nicht so entwickeln, wie es sich die Marktteilnehmer gewünscht hätten, sind das Eine. Die Gründe können vielfältig sein wie höhere Finanzierungskosten, Managementfehler, verschärfter Wettbewerb oder externe Schocks wie die Pandemie und der Ukrainekrieg. Ein Teil der Kursdebakel ist aber auch auf Zwänge und Versuchungen des Kapitalmarktes zurückzuführen, denen nicht alle KMU gewachsen sind, vor allem wenn sie sich in Phasen der Wachstumsbeschleunigung befinden. Ein attraktiver Finanzplatz braucht aber langfristige Erfolgsgeschichten, die ohne Börse kaum möglich wären. Erfolgsgeschichten wie Straumann, VAT oder Galderma wirken wie Magnete und sollten gerade in einer innovationsfreundlichen Umgebung wie der Schweiz neue Börsenkandidaten anlocken.
Tatsächlich ist die IPO-Bilanz aber mager. Der langfristige Durchschnitt liegt bei gerade zwei Börsengängen pro Jahr. Und davon entfallen viele auf Abspaltungen wie Medmix oder stammen aus dem Besitz der Gründerfamilien wie Klingelnberg und PolyPeptide oder Private Equity Fonds wie SIG Group und Galderma. Es handelt sich fast immer um reife Unternehmen und selten um junge innovative Unternehmen wie etwa in den USA oder an den skandinavischen Börsen. Eine solche Ausnahme ist Sensirion, die 2018 ihr IPO an der SIX vollzog und heute immerhin rund 100% höher liegt, trotz dreijähriger Korrektur.
Zahl der börsenkotierten Unternehmen schrumpft
In Wahrheit schrumpft die Zahl der börsenkotierten Unternehmen sogar. Im vergangenen Jahr fusionierten Tornos und Starrag. In jüngerer Zeit wurde Datacolor vom Hauptaktionär durch ein Taking Private von der Börse genommen. Von Roll und Schaffner Holding wurden dagegen von Industrieadressen aufgekauft. Mit Orascom Holding steht nun ein weiterer Rückzug von der Börse bevor. Auch hier ist Frustration über das mangelnde Interesse zumindest ein Grund für die Re-Privatisierung. Die Bewertung der Assets habe sich nicht im Aktienkurs niedergeschlagen. Gemessen am Emissionspreis liegt der Verlust für Erstzeichner trotz der nun gebotenen optisch hohen Prämie bei 96%.
IPO-Pipeline
Schon für 2024 war die IPO-Pipeline der SIX gut gefüllt. In Fachkreisen wurde über bis zu 15 Kandidaten spekuliert. Vereinzelt wurden in den letzten Jahren auch konkrete Börsengänge angekündigt, jedoch stets, ohne Zeitfenster zu benennen. Ein Beispiel ist das Verteidigungs-, Luft- und Raumfahrtunternehmen RUAG, das den Börsengang seit 2019 avisiert und dann auf 2023 verschoben hat. Bei dem strategisch wichtigen Unternehmen ist die Schweizer Eidgenossenschaft alleiniger Eigentümer. Der Zeitpunkt 2025 wäre für ein IPO bestimmt gut gewählt. Die deutsche Rheinmetall Aktie hat sich in den vergangenen drei Jahren verfünffacht und kommt nun auf eine Börsenkapitalisierung von über 28 Mrd. Euro. Der Pharma-Dienstleister Swixx und der Hersteller von Verpackungsmaschinen Syntecon haben ihre Börsenpläne dagegen erst im vergangenen Jahr öffentlich gemacht. Ohne Zweifel wird die IPO-Pipeline der SIX weiterhin attraktive Börsenkandidaten aufweisen, doch Aebi Schmidt gehört nicht mehr dazu. Der Hersteller von innovativen Kommunalmaschinen ging via Reverse Merger mit der Shyft Group an die US-Technologiebörse Nasdaq. Auch der im Duft- und Aromengeschäft global bedeutsame Familienkonzern Firmenich mit Sitz in der Schweiz wählte einen ähnlichen Weg durch Fusion mit der börsenkotierten niederländischen DSM zu DSM-Firmenich und ist an der Euronext kotiert.
Effiziente Märkte und Marktineffizienzen
Für diese Vorgehensweise spricht die höhere erzielbare Bewertung, die sich am Gesamtmarkt und den Vergleichsunternehmen orientiert. Die Gesamtmarktkapitalisierung der US-Börsen lag Ende Juli 2024 bei 56.2 Billionen USD, die Chinas bei 14.1 Billionen USD und die der Eurozone bei 7.9 Billionen USD. Zum Ende des dritten Quartal 2024 lagen die durchschnittlichen KGVs in den USA bei über 20x, in Europa bei 15x und in China inklusive Hongkong bei unter 12x. Die Market Cap der Schweiz ist mit 2.7 Billionen USD in Europa zwar vergleichsweise hoch, dennoch liegen die Bewertungs-Multiples unter den amerikanischen. Marktkapitalisierung und relatives Bewertungsniveau sind Ausdruck der wirtschaftlichen Dynamik und Stabilität.
Ursachen und Wirkungen
Dazu kommt aber auch, dass es Markttiefe braucht, d.h. einen grossen und wachsenden Pool von aktiven Investoren sowie eine gewisse Anzahl von Vergleichsunternehmen, um den Markt zu beleben und zu einer effizienten Kursbildung beizutragen. Die Illiquidität und ineffiziente Kursbildung beim Weltmarktführer Schaffner Holding hatte zu einer Unterbewertung geführt, die der Käufer zu nutzen wusste. Biotech-Unternehmen aus der Schweiz gingen in den letzten Jahren verstärkt an die Nasdaq, weil es dort spezialisierte Investoren und Vergleichsunternehmen gibt. Der Vergleich mit den USA ist schwierig. Daher ist die bessere Frage, warum es in den in vielerlei Hinsicht gut vergleichbaren skandinavischen Ländern so gut gelingt, junge und innovative Unternehmen über die Börse zu finanzieren und so Impulse zu setzen, Perspektiven zu schaffen und zum Wachstum des Wohlstands der breiten partizipierenden Bevölkerung beizutragen. Die Schweiz liegt bei Bildung, Einkommen, Gesundheit, Innovation, Wettbewerbsbedingungen und vielen Parametern mehr auf dem gleichen hohen Niveau wie die nordischen Länder.