Infrastruktur-Aktien: Rationale und irrationale Kurseffekte der Mega-Bazooka

Sondervermögen in Billionen Euro Volumen katapultieren Aktienkurse nach oben

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Die von der Schaffung der Sondervermögen in Deutschland und in der EU ausgehenden Impulse haben eine starke Hausse an den Aktienbörsen ausgelöst. Bild: stock.adobe.com

Kaum jemand hätte erwartet, dass die deutsche Börse die Leitfunktion von der Wall Street übernehmen würde. Seit Jahresbeginn schob sich der DAX um 13% nach oben, in den USA dagegen ist der Dow-Jones um 1% gefallen, der Nasdaq liegt 10% im Verlust. Der jüngste DAX-Kursschub im März ging davon aus, dass die neue deutsche Regierung mit den Mehrheiten des alten Parlaments die berühmt-berüchtigte «Schuldenbremse» aushebelte und angesichts der Bedrohungen aus Ost und West Sondervermögen in Höhe von 1.3 Billionen Euro für Verteidigung sowie für Infrastruktur beschloss.

Auch die EU schafft neue Programme in Höhe von 800 Mrd. Euro, die im Wesentlichen dem bereits bekannten «Draghi-Plan» folgen. Die Auswirkungen strahlten weit über die Landesgrenzen hinaus und erfassten auch die Börsen in Wien, Zürich, Paris, London, Amsterdam und Mailand. Die starke Tendenz der europäischen Aktienindizes wirft aber auch Fragen auf.

Beispiel Rheinmetall

Die Börse ist ein Antizipationsmechanismus, tendiert jedoch zu Übertreibungen – in beide Richtungen. Die euphorischen Kursgewinne im Verteidigungs-Sektor veranschaulicht keine Aktie besser als Rheinmetall. Allein seit Anfang Jahr schoss der Kurs von 615 Euro auf 1445 Euro. Vor Beginn des Ukraine-Krieges Anfang 2022 lag der Kurs noch unter 100 Euro. Trotz jetzt forscher Wachstumsraten ist das KUV auf 6 gestiegen, die Marktkapitalisierung erreichte in der Spitze 69 Mrd. Euro. Das KGV 2025 kann auf 45 bis 50 geschätzt werden.

Chart Rheinmetall Apr 25
Kursverlauf der Aktie der Rheinmetall AG in den letzten 3 Jahren. Chart (in EUR): boerse-frankfurt.de

Boom im Verteidigungssektor

Dass im Verteidigungs-Sektor Bewegung aufkommt, hatte sich seit Jahren abgezeichnet, doch die involvierten Summen waren noch vergleichsweise bescheiden. Die europäischen NATO-Mitglieder verliessen sich vor allem auf den militärischen und nuklearen Schutzschild des Senior-Partners USA. Trotz vieler Mahnungen diverser US-Präsidenten über die Jahrzehnte haben die Europäer ihre NATO-Verpflichtungen nicht ernst genommen. 2024 haben erst 23 der 32 Nato-Länder die geforderte Hürde – 2% ihres BIP – in die Verteidigung investiert. Inzwischen fordert Trump 5%!

Das NATO-Dilemma

Dazu kommt, dass die Europäer nicht mehr sicher sein können, mit den USA am gleichen Strang zu ziehen. Die Annäherung der Trump Administration an Putin und Russland sowie die unverblümten Annexionsdrohungen gegen Grönland – und damit gegen Dänemark und auch die EU – haben auf europäischer Seite die seit den 1950er Jahren bestehende Allianz der NATO-Staaten erschüttert und die Protagonisten schockiert. Ebenfalls bedroht ist das weitere amerikanische NATO-Mitglied Kanada, das nun den Ausbau der Beziehungen zur EU anstrebt. Mehr als die Hälfte der Kanadier sehen sich als Europäer, weniger als ein Viertel als Nordamerikaner, so die Ergebnisse einer Volksbefragung von 2023.

Frieden und Krieg

Insofern hat sich die Sicherheitslage in Europa seit 2022 grundlegend geändert und 2025 mit dem erneuten Amtsantritt von Trump nochmals fundamental gewandelt. Eigentlich kommt die europäische Reaktion viel zu spät und ist ihrem Wesen nach eben reaktiv. Dabei wird an jeder Militär-Akademie gelehrt, dass man sich unter dem Primat der Sicherheit und Erhaltung der Souveränität im Krieg auf den Frieden und im Frieden auf den Krieg vorbereiten muss. Die Periode der Friedensdividende seit Beginn der 1990er Jahre ist definitiv vorbei. Dies ist bisher scheinbar weder in der Spass-Gesellschaft noch bei den Wut-Bürgern in den westlichen Demokratien angekommen. Die EU fordert zwar derzeit ihre Bürger auf, Reserven für 72 Stunden vorzuhalten für den Fall von Naturkatastrophen oder Kriegsakten, doch das wird nicht reichen, um das veränderte geopolitische Kräfteverhältnis und die akute Bedrohungslage ins Bewusstsein der breiten Bevölkerung zu heben.

Geht die Hausse zu weit?

Tatsache ist aber auch, dass die Sondervermögen nicht sofort mit der Giesskanne verteilt werden, sondern zum weitaus grössten Teil nicht vor 2028 in die Wirtschaft fliessen werden. Die Hausse an der Börse könnte somit schon zu viel vorweggenommen haben. Ein Grund ist, dass geeignete Aktien rar an den Börsen gesät sind und somit sehr viel Kapital auf wenige und oft niedrig kapitalisierte Werte mit teilweise geringem Streubesitz stösst. Die Aktie des deutschen Herstellers von Radaren und Optronik für Kampfflugzeuge und Panzer, Hensoldt, konnte sich allein seit Anfang Januar mehr als verdoppeln. Die Market Cap liegt nach einer Korrektur aktuell bei 7.2 Mrd. Euro, der Free-Float bewegt sich bei 33,5%.

Der europäische Verteidigungs-Sektor

Im europäischen Kontext haussierten die französische Thales, die italienische Leonardo sowie die britische BAE Systems. Leonardo ist beispielsweise mit 22,8% an Hensoldt beteiligt und über Joint Ventures auch mit Thales im Geschäft. An den meisten Unternehmen des Sektors sind auch Staaten substanziell beteiligt, wie Italien an Leonardo und Frankreich an Thales. Eine solche Aktionariatsstruktur strebt auch Thyssenkrupp an, die ihre U-Boot Sparte dieses Jahr an die Börse bringen will. Die Aktie zählte im laufenden Jahr zu den stärksten Performern mit mehr als einer Verdoppelung. Ein Titel an der SIX, der extrem von den Aufwinden im Sektor profitieren konnte, ist Cicor. Mit 56% Kursanstieg seit Anfang Jahr zählt der Zulieferer von Elektronik zu den Starperformern in Zürich. Die Market Cap beträgt nun über 400 Mio. CHF.  Das Unternehmen hatte sich seit einiger Zeit auf Lösungen für die Verteidigungsindustrie fokussiert.

Investment Fonds und ETFs als Marktfaktor

Zu berücksichtigen ist aber auch, dass insbesondere seit 2022 mehrere Investment Fonds und ETFs mit Verteidigung und Sicherheit im Namen lanciert wurden. Die Volumina summieren sich auf einen zweistelligen Milliarden-Euro-Betrag. Die grössten Positionen sind die oben genannten Aktien, ergänzt um Saab, Rolls Royce und weitere Zulieferer.

Der Sektor muss sich neu erfinden

Ein Dilemma ist und bleibt die hohe Abhängigkeit Europas von den USA. Volle 64% der europäischen Militärbudgets flossen in der langfristigen Betrachtung an amerikanische Hersteller wie Boeing, Lockheed Martin und General Dynamics. Einzig Frankreich hat eigene Systeme und ist somit bedingt autark. Die britischen Nuklearkapazitäten sind operativ von den USA hochgradig abhängig. Über die britische Schlagkraft machte sich ein Kreml-Sprecher kürzlich lustig und sagte, dass die ganze Armee ins 75’000 Besucher fassende Wembley Stadion passen würde, was auch zutreffend ist. Zu erwarten ist, dass zahlreiche neue Unternehmen gegründet werden und bestehende Unternehmen ihre Produktion erweitern respektive verlagern werden, bspw. Armee-Fahrzeuge und militärische Komponenten herstellen statt Automobile.

Infrastruktur-Boom mit Verspätung

Bereits Ende 2018 und Anfang 2019 veröffentlichte schweizeraktien.net eine vierteilige Serie zum Infrastruktur-Sektor und den Investment-Chancen am Schweizer Aktienmarkt. Ob ABB, Implenia oder SSE Holding – die damals identifizierten Aktien stehen heute meist wesentlich höher. Über die dringend notwendigen Investitionen in Bahnnetze, Energieerzeugung und -distribution, Brücken, Tunnel usw. wird zwar seit langem gern und viel gesprochen, doch tatsächlich sind die Infrastukturen des «alten Kontinents» oft marode und sogar gemeingefährlich. Beispiele sind einsturzgefährdete Brücken oder die schlechte Wasserqualität auf den britischen Inseln. Die Deutsche Bahn verzeichnet mehr Verspätungen als jemals zuvor.

Chart ABB Apr 25
Aktienkursentwicklung von ABB. Chart (in CHF): six-group.com

Von der Schuldenbremse zur Mega-Bazooka

Doch mit Blick auf die ohnehin hohe Staatsverschuldung in den meisten Ländern der EU und die Sonderbelastungen durch die Pandemie, den Krieg in der Ukraine sowie die Energiekrise war die Verpflichtung zu Investitionen in die Infrastruktur nach hinten verschoben worden. Die nun im Krisenmodus ausgehebelte «Schuldenbremse» in Deutschland und stattdessen die Schaffung der Sondervermögen – die Mega-Bazooka – kommen einer Zeitenwende gleich. Die Börse hat die schliesslich glaubhafte Etablierung der Fakten richtig antizipiert und den Aktien der Profiteure der veränderten Fiskalpolitik zu einem aussergewöhnlich steilen Höhenflug verholfen.

Beschränkte Auswahl an der Börse

Im Infrastruktur-Sektor ist das Bild ähnlich wie im Verteidigungs-Sektor. An der deutschen Börse finden sich hauptsächlich international aktive Unternehmen wie Siemens, Heidelberg Materials und Hochtief. Das heisst, der Deutschland-Anteil des Geschäftsvolumens ist eher gering. Obwohl Hochtief nur 5% des Umsatzes in Deutschland erzielt, stieg der Kurs seit Anfang Jahr von 130 Euro auf 186 Euro, korrigierte jedoch inzwischen. Bei Heidelberg Materials kletterte der Kurs im laufenden Jahr von 120 Euro auf in der Spitze 182 Euro. Der Grossaktionär, die Milliardärsfamilie Merckle, verkaufte allein in der ersten Hälfte des Monats März Aktien im Wert von 82 Mio. Euro.

Chart Geberit Apr 25
Kursverlauf der Geberit-Aktie. Chart (in CHF): six-group.com

Börsen Wien und Zürich

Die Hausse griff auch auf Schweizer und österreichische Aktien über. An der Börse Zürich avancierten Geberit und Holcim zu den besten Monatsgewinnern. In Wien erzielten Wienerberger, Porr und Strabag herausragende Kursgewinne. Auch bei diesen Titeln scheint die Auswirkung der deutschen Sondervermögen übertrieben ausgefallen zu sein. Inzwischen hat sich eine erste Korrekturbewegung eingestellt.

Implenia bleibt günstig bewertet

Eine Ausnahme ist die Aktie von Implenia, was verwundern kann. Denn beim grössten Schweizer Baukonzern liegt der Deutschland-Anteil am Geschäftsvolumen bei rund einem Drittel und damit höher als bei den meisten zuvor genannten Profiteuren der Mega-Bazooka. Anfang März, bevor die Schuldenbremse gelöst und die Mega-Bazooka ausgepackt wurde, untersuchte schweizeraktien.net die Chancen der Implenia-Aktie und macht Signale einer Trendwende aus. Zu diesem Zeitpunkt lag die Aktie bei 36 CHF, am Jahresbeginn noch bei 30 CHF. Implenia wurde von der Infrastruktur-Hausse erfasst und erreichte kurzzeitig 43 CHF. Angesichts des 2024 erzielten Gewinns je Aktie von 5.08 CHF ist die KGV-Bewertung somit von 7x auf 8x geklettert. Der aktuelle Kurs liegt bei 40.40 CHF. Die meisten anderen vergleichbaren Aktien weisen dagegen KGVs von mindestens 12x auf, oft mehr.

Langfristige Perspektiven

Zwischenzeitlich wurden von Implenia weitere Auftragseingänge in einem dreistelligen Millionenvolumen verzeichnet, darunter auch aus Deutschland. Und dann kann sich auch Kursfantasie daran entzünden, dass die Pläne inzwischen sehr konkret sind, an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz einen neuen Mega-Large-Hadron-Collider zu bauen. Der CERN-LHC ist der grösste der Welt und hat zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse gebracht, wie den Nachweis der Higgs-Teilchen. Um jedoch weitere Erkenntnisse zu gewinnen, insbesondere zur sogenannten Dunklen Energie und zur Dunklen Materie, die 95% unseres Universums ausmachen, muss eine grössere Maschine konstruiert werden. Dafür muss ein Tunnel gebohrt werden, der 91 km lang ist. Die Kosten des Projekts werden auf über 30 Mrd. USD geschätzt. Implenia ist der mit Abstand führende Tunnelbauer in Europa und an allen Grossprojekten wesentlich beteiligt.

Aktien der zweiten Reihe

Weitere Schweizer Aktien, die im weitesten Sinn auf längere Sicht von dem Investitionsboom in den Ländern der EU profitieren können sind R&S Group, Zehnder, V-Zug und Stadler. Sie alle sind Teil des europäischen Infrastrukturmarktes. Zehnder und V-Zug bieten gute und innovative Lösungen, die bei Neubauten und Renovierungen zum Zug kommen könnten. Allerdings wird es sich eher um Impulse handeln, denn V-Zug beispielsweise erzielt noch 84% des Geschäftsvolumens im Heimatmarkt. R&S Group produziert Transformatoren, wie sie überall in der Elektrizitätswirtschaft benötigt werden. Stadler erhält bereits viele Aufträge aus Deutschland und der ganzen EU. Es kann nicht schaden, wenn noch weitere dazukommen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der neue deutsche Bundekanzler Merz in seiner apolitischen Periode u.a. Mitglied des Verwaltungsrates von Stadler war .

Unter den ausserbörslich gehandelten Aktien sticht SSE Holding hervor. Deren CO2-neutraler Sprengstoff Hynix, ein schwedisch-schweizerisches Joint Venture, erfährt die erste Phase der breiten Markteinführung. Der Nachhaltigkeitsführer Implenia beispielsweise verwendet bei laufenden Projekten bereits den innovativen Sprengstoff.

Chart R&S Group Apr 25
Kursverlauf der Aktie der R&S Group seit Handelsaufnahme. Chart (in CHF): six-group.com

Fazit

Die von der Schaffung der Sondervermögen in Deutschland und in der EU ausgehenden Impulse haben eine starke Hausse an den Aktienbörsen ausgelöst. Umgekehrt verzeichneten Halter von Anleihen signifikante Kursverluste. Die Rendite der 10-jährigen deutschen Bunds stieg im März von 2,4% auf 2,8%. Der bisherige Börsenmotor Wall Street ist schwer ins Stottern gekommen, wozu im Wesentlichen die Politik der neuen Administration beiträgt. Ob sich die europäischen Börsen trotz der angekündigten bedeutenden Investitionsprogramme von den US-Börsen abkoppeln können, bleibt abzuwarten. Abgesehen von Ausnahmesituationen wie der deutschen Einheit ist dies nie nachhaltig geschehen. Dennoch sind Chancen am Aktienmarkt erkennbar. Ein Beispiel ist die noch unterbewertete Implenia, ein weiteres die R&S Group nach der Korrektur der letzten fünf Monate. Und, sollte der Ukraine-Krieg enden, wäre die österreichische Wienerberger als grösster Ziegelhersteller Europas hervorragend für den Wiederaufbau vorbereitet.

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